Samstag, 30. September 2023

Samson und das gestohlene Herz, Andrej Kurkow

Nachdem ich kürzlich mein erstes Buch von Andrej Kurkow („Graue Bienen“) gelesen hatte, habe ich nun den zweiten Band der Reihe über den Kiewer Milizionär Samson gelesen. Samson ist eine Art Ermittler in der Zeit um 1919/1920.

Samson und seine Kollegen sollen wegen des illegalen privaten Handels mit Fleisch ermitteln. Zwar kann die Bevölkerung das eben erst erlassene Gesetz nicht kennen, das den privaten Handel mit Fleisch verbietet, aber das hindert die Miliz nicht, sowohl Schlachter als auch Verkäufer und Käufer zu belangen, und zwar auch rückwirkend. Lebensmittel sind knapp, der Schwarzmarkt mit allem blüht.

Die politische Lage in Kiew ist unübersichtlich nach der russischen Revolution und Absetzung des Zaren. Samson arbeitet bei der staatlichen Arbeiter- und Bauernmiliz. Zusätzlich gibt es noch die Tscheka, eine Vorläuferorganisation des sowjetischen Geheimdienstes, die ebenso wie die Miliz eine Polizeifunktion erfüllt. Die Staatsgewalt ist aufgesplittert, denn auch die Rote Armee tut Dienst in der Stadt. Wer welche Kompetenzen hat, ist kaum auszumachen. Kein Wunder also, dass auch andere Gruppen in der Stadt das Recht in die eigenen Hände nehmen, wie etwa die Eisenbahner, die eigene Patrouillen haben und die Bahngleise als ihr Gebiet mit Waffengewalt behaupten.

Ich hatte einen Krimi erwartet. Dafür ist der Roman allerdings eher handlungsarm. Geschildert wird vielmehr die Lebenssituation in Kiew zu dieser Zeit. Auf dem Vorsatzpapier ist eine Stadtkarte des historischen Kiew zu sehen, auf der die Handlungsorte der Geschichte markiert sind, etwa der Jüdische Markt, auf dem mit Lebensmitteln gehandelt wird. Wir erfahren – offenbar wohl recherchiert -, welche Lebensmittel wem zugeteilt wurden, dass Strom knapp war, wie die Milizionäre sich in einer öffentlichen Banja waschen gehen oder welche Verkehrsmittel es gab. Ein bisschen magische Realität gibt es auch. Offenbar ist Samson im ersten Band der Reihe (den ich nicht gelesen habe) ein Ohr abgeschlagen worden, das er in einer Dose verwahrt. Mit diesem kann er hören, was in einem Raum gesprochen wird, in dem sich nur das Ohr, nicht aber er selbst befindet.

Das Beeindruckendste und Erschütterndste an diesem Roman ist für mich als Juristin, wie die Ermittlungsmethoden der Miliz geschildert werden. Von Rechtsstaatlichkeit und fairem Verfahren keine Spur! Gesetze werden ständig erlassen und nicht bekannt gemacht. Dennoch werden sie rückwirkend angewandt. Vor einer Befragung wird niemand darauf hingewiesen, ob er als Zeuge oder Mittäter geführt wird. Verhaftet wird andauernd und lange. Einschüchterung und Erniedrigung werden als Methoden zwingend empfohlen. Gerichte sind abgeschafft. Die Miliz schreibt die Urteile nach den Ermittlungen gleich selbst. Das Strafmaß ist willkürlich, auch die Todesstrafe wird verhängt. Einflussnahme durch Bestechung oder persönliche Freundschaft ist an der Tagesordnung. Es gruselt mich!

„Sag uns ehrlich: Was hast du auf der Wache alles gestohlen? Deine Kameraden haben dich verraten“, sagte Cholodny laut und beugte sich dabei nach vorne zu Kosjakin.

„Was denn für Kameraden?“; fragte Kosjakin nach seinem Hustenanfall und starrte Cholodny an. Dann blickte er zu den beiden Rotarmisten, die ihn hergebracht hatten, aber die schüttelten die Köpfe.

„Die waren es nicht“, bestätigte Samson. „Es waren andere. Gestehst du also? Vielleicht fangen wir mit dieser Zigarettenspitze an?“

„Wir werden dich dafür schon nicht ins Gefängnis stecken. (…) Wir haben noch nicht einmal eine Akte über dich angelegt. Unser Befehl lautet nur, herauszufinden, wer es war. (…)“ (S. 250)

Der Roman konnte mich leider nicht wirklich fesseln. Die Ermittlungen in einem Bagatellfall dümpeln vor sich hin, Spannung kommt nicht auf. Der Konflikt mit den Eisenbahnern, auf den Cover und Klappentext hindeuten, kommt eher am Rande vor. Was zu dieser besonderen Stellung der Eisenbahner geführt hat, ist mir nicht klargeworden. Ähnlich wie in „Graue Bienen“ wird auch hier Politik nicht erklärt, sondern nur detaillreich deren Auswirkungen gezeigt. Von der Kiewer Situation 1919 weiß ich allerdings noch weniger als von der Situation im Donbass 2017. So kann ich nur eine Diktatur mit willkürlicher Staatsmacht wahrnehmen, von denen es in der Welt allerdings bis heute viele gibt. Mir fehlte die poetische Sprache, die mir in „Graue Bienen“ so gefallen hatte. Ich bin keine Krimileserin, aber ich bezweifle, dass dieser Roman Krimifreunde beglücken würde.

Ich würde diesen Roman Leser:innen empfehlen, die an der historischen Situation der Ukraine interessiert sind und die ein langsames Erzähltempo mögen. Der Plot steht nicht im Vordergrund. Es ist eher ein Gesellschaftspanorama von 1919/1920.

Samson und das gestohlene Herz, Andrej Kurkow, aus dem Russischen übersetzt von Johanna Marx und Claudia Zecher, Illustrationen von Juri Nikitin, Diogenes Verlag, Zürich, 2023, 432 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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