Tschechows kurze Erzählung „Gram“ bzw. „Kummer“ (in anderer Übersetzung) hat es Helga Schubert besonders angetan. Sie habe sie bestimmt hundertmal gelesen. Schubert analysiert begeistert die Struktur dieser Erzählung, die abschnittsweise im vorliegenden Buch abgedruckt ist. Ein alter Kutscher hat seinen Sohn verloren und bemüht sich mehrfach erfolglos einen Menschen zu finden, dem er sein Leid über den Tod klagen kann. Schließlich erzählt er seinem Pferdchen davon, das verständnisvoll schnaubt. Helga Schubert erkennt sich in allen in der Erzählung benannten Figuren wieder, am meisten jedoch in dem Pferdchen.
„Aber ich war auch zeitlebens das Pferd, dem man schließlich alles erzählen konnte, vom verworrenen, manchmal scheiternden, schamvollen Dasein, von der Untreue, vom Verfluchen und Verfluchtwerden, von einer hoffnungslosen Liebe. (…) Ja, genau genommen war ich das Pferd für andere Menschen.“ (S. 41)
Die studierte Psychologin Schubert spielt an auf ihre langjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin, möglicherweise aber auch auf die Beziehung zu ihrem inzwischen pflegebedürftigen, dementen Mann, dem sie immer noch geduldig zuhört. (Hiervon schreibt sie in „Der heutige Tag“.) Ebenso wie Tschechow ist Helga Schubert eine interessierte Beobachterin von Menschen, denn irgendwo müssen Inspirationen für Charaktere der Erzählungen ja herkommen.
Es macht Freude, Helga Schubert und ihrer Hommage an Tschechow zu lauschen, denn sie ist eine Kennerin. Nicht nur hat sie alle seine Werke und Briefe gelesen, sondern sie hat auch auf Reisen in die UdSSR Lebensorte von Tschechow besucht. Vor allem aber tönt die Liebe zum Schreiben und zu den beschriebenen Menschen aus jeder Zeile dieses Buches. Einfach schön.
Helga Schubert über Anton Tschechow, Herausgeber: Volker Weidermann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2023, 112 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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