Donnerstag, 9. Februar 2023

Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo (Gastrezension von Rainer Kolbe)

"Einige der faszinierendsten Gebäude der zeitgenössischen Architektur sind Bibliotheken, also offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht." (S. 84)
Ich gestehe, dass ich das Buch von Irene Vallejo nicht gelesen habe. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne, von vorn nach hinten. Sehr wohl aber habe ich in dem Buch von Vallejo gelesen – und meistens habe ich die Lektüre hinten im Buch begonnen: im Register. Wer hier seinen Blick schweifen lässt, bekommt sofort einen Eindruck von der Vielfalt und der Tiefe des Buches und vom umfassenden Wissen der Autorin: Demokrit, Demosthenes, De Niro, Descartes, Dickens, Dickinson. Oder Jenkins, Jesus, Jiménez, Jobs (Steve!), Johannes (Evangelist). Oder Kratinos, Kubrick, Kundera, Kurosawa. Wen das nicht zur Lektüre reizt, zum Stöbern, zum Vagabundieren, der hat das Buch – gut 750 Seiten – ohnehin nicht zur Hand genommen.
 
Umfassendes Wissen ist das eine. Die Kunst besteht darin, das Wissen auch an den Lesenden zu bringen – in diesem Sinne ist die Autorin eine Künstlerin. In jedem Abschnitt ist ihre Leidenschaft für Bücher und das Lesen zu spüren, mitunter zu genießen, in jedem Fall ist die Leidenschaft ansteckend, macht Spaß, macht Leselust. Die Lektüre einer einzigen Passage reicht schon: Es war mir trotz vieler Versuche nicht möglich, mich nicht festzulesen an der Stelle, auf die mich mein Blick ins Register geworfen hatte.
 
Dabei geht es grundsätzlich um die Antike, auch wenn der deutsche Titel zunächst anderes vermuten lässt. Nun ist es nicht jedem gegeben, sich für die Antike zu interessieren, und der Lateinunterricht an der Schule trug zumindest bei mir auch nicht gerade dazu bei. Dass es so eine Leselust bereiten kann, das Sachbuch einer Altphilologin zu lesen, hätte ich vor Papyrus nicht für möglich gehalten. Vallejo verknüpft das Damals sehr geschickt mit allem, was danach und bis heute passierte (ja, inklusive E-Book), sie zeigt uns die Parallelen zwischen damals und heute und tut all das auf wunderbar erzählerische Weise. Man kann vergessen, ein Sachbuch vor sich zu haben.
 
Das Zitat oben soll ein Hinweis sein, was dieses Buch ist: Eine bunte Schatztruhe. Als „offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht“ habe ich Bibliotheken bisher noch nicht gesehen. Jetzt schon.
 
Die 750 Seiten kurz zusammengefasst: Die Geschichte der Schrift, die Geschichte des Buches, die Geschichte der Bibliotheken und die Geschichte der Literatur und des Lesens.

Zurück zum Register. Nach En-hedu-anna hätte ich dort nicht gesucht, über diese sumerische Dichterin bin ich beim Mich-fest-Lesen gestolpert. Was für ein Erkenntnisgewinn! „Der erste Schriftsteller, der einen Text mit eigenem Namen unterschreibt, ist eine Frau. 1500 Jahre vor Homer.“
 
Jetzt lese ich das Buch doch lieber noch einmal ganz herkömmlich, von vorn nach hinten. Wer weiß, was mir bei meinem bisherigen Vagabundieren noch so alles entgangen ist!

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Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo, aus dem Spanischen übersetzt von Maria Meinel und Luis Ruby, Diogenes Verlag, Zürich, 2022, 752 Seiten, 28,00 EUR
 
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
 
Die Buch-Lady dankt Rainer Kolbe herzlich für seine Gastrezension!

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