"Einige der faszinierendsten Gebäude der zeitgenössischen Architektur sind Bibliotheken, also offene Räume für das Experimentieren und das Spiel mit dem Licht." (S. 84)
Ich gestehe, dass ich das Buch
von Irene Vallejo nicht gelesen habe. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne,
von vorn nach hinten. Sehr wohl aber habe ich in dem Buch von Vallejo
gelesen – und meistens habe ich die Lektüre hinten im Buch begonnen: im Register.
Wer hier seinen Blick schweifen lässt, bekommt sofort einen Eindruck von der
Vielfalt und der Tiefe des Buches und vom umfassenden Wissen der Autorin:
Demokrit, Demosthenes, De Niro, Descartes, Dickens, Dickinson. Oder Jenkins,
Jesus, Jiménez, Jobs (Steve!), Johannes (Evangelist). Oder Kratinos, Kubrick,
Kundera, Kurosawa. Wen das nicht zur Lektüre reizt, zum Stöbern, zum
Vagabundieren, der hat das Buch – gut 750 Seiten – ohnehin nicht zur Hand
genommen.
Umfassendes Wissen ist das eine.
Die Kunst besteht darin, das Wissen auch an den Lesenden zu bringen – in diesem
Sinne ist die Autorin eine Künstlerin. In jedem Abschnitt ist ihre Leidenschaft
für Bücher und das Lesen zu spüren, mitunter zu genießen, in jedem Fall ist die
Leidenschaft ansteckend, macht Spaß, macht Leselust. Die Lektüre einer einzigen
Passage reicht schon: Es war mir trotz vieler Versuche nicht möglich, mich nicht
festzulesen an der Stelle, auf die mich mein Blick ins Register geworfen hatte.
Dabei geht es grundsätzlich um
die Antike, auch wenn der deutsche Titel zunächst anderes vermuten lässt. Nun
ist es nicht jedem gegeben, sich für die Antike zu interessieren, und der
Lateinunterricht an der Schule trug zumindest bei mir auch nicht gerade dazu
bei. Dass es so eine Leselust bereiten kann, das Sachbuch einer Altphilologin
zu lesen, hätte ich vor Papyrus nicht
für möglich gehalten. Vallejo verknüpft das Damals sehr geschickt mit allem,
was danach und bis heute passierte (ja, inklusive E-Book), sie zeigt uns die
Parallelen zwischen damals und heute und tut all das auf wunderbar
erzählerische Weise. Man kann vergessen, ein Sachbuch vor sich zu haben.
Das Zitat oben soll ein Hinweis
sein, was dieses Buch ist: Eine bunte Schatztruhe. Als „offene Räume für das
Experimentieren und das Spiel mit dem Licht“ habe ich Bibliotheken bisher noch
nicht gesehen. Jetzt schon.
Die 750 Seiten kurz
zusammengefasst: Die Geschichte der Schrift, die Geschichte des Buches, die
Geschichte der Bibliotheken und die Geschichte der Literatur und des Lesens.
Zurück zum Register. Nach
En-hedu-anna hätte ich dort nicht gesucht, über diese sumerische Dichterin bin
ich beim Mich-fest-Lesen gestolpert. Was für ein Erkenntnisgewinn! „Der erste
Schriftsteller, der einen Text mit eigenem Namen unterschreibt, ist eine Frau.
1500 Jahre vor Homer.“
Jetzt lese ich das Buch doch
lieber noch einmal ganz herkömmlich, von vorn nach hinten. Wer weiß, was mir
bei meinem bisherigen Vagabundieren noch so alles entgangen ist!
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Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern, Irene Vallejo, aus dem Spanischen übersetzt von Maria Meinel und Luis Ruby, Diogenes Verlag, Zürich, 2022, 752 Seiten, 28,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
Die Buch-Lady dankt Rainer Kolbe herzlich für seine Gastrezension!
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