Der Roman nimmt uns mit auf eine nicht benannte friesische Insel und ihren Bewohnern. Das Buch kommt ohne eine Handlung im engeren Sinne aus und ist mehr eine Panoramabeschreibung des Lebens auf der Insel. Der Sommer ist geprägt von den Feriengästen, der Winter von Einsamkeit und rauem Wetter. Jedes Kapitel widmet sich einem Insulaner oder einer Insulanerin und beschreibt „Typen“. Da gibt es die Frau eines früheren Seemanns, der jetzt als Vogelwart auf einer Nachbarinsel die Brutpaare zählt. Deren Kinder können sich auch nicht von der Heimat losreißen, der eine arbeitet auf einem Schiff, die andere im Seniorenheim der Insel, der dritte Bruder fertigt Kunstwerke aus Treibgut. Der Inselpastor hält die Seelen notdürftig zusammen.
Insgesamt ist die Erzählweise sehr langsam, aber erstaunlich rhythmisch. Der Text reimt sich nicht, liest sich aber fast wie ein Gedicht, und das durchgängig bis zur letzten Seite! Die Sätze rollen wie die Wellen an den Strand. Das ist kunstvoll gemacht, aber auch gewöhnungsbedürftig. Anders als in den anderen Büchern kommt kein Plattdeutsch vor, obwohl die „Inselsprachen“ eine Rolle spielen. Damit sind aber wohl deutlich schwerer allgemein verständliche friesische Dialekte gemeint.
Wir schauen auf das alltägliche Leben der Inselbewohner wie mit einer zufällig auf sie gerichteten Kamera. Das muss man mögen. Ich hätte mir etwas mehr Handlung und damit Spannung gewünscht, aber das ist sicher Geschmackssache. Zwar passiert hier und da eine Veränderung, aber wir sind als Leserinnen eher zufällig dabei, wie sich das Leben weiterentwickelt. Die Menschen leben nebeneinander her, die Perspektive springt von einem zum anderen. Insgesamt geht es um die Veränderungen des Insellebens, wie die Touristen es wahrnehmen möchten. Die Fischer können nicht mehr von der Fischerei leben, das Seemannsleben spielt sich nicht mehr auf Walfängern, sondern auf der Inselfähre ab, der angeschwemmte Wal fängt schnell an zu stinken und muss zerlegt werden, ehe sein Gedärm explodiert. Es ist eine sterbende Welt, in der die Trachten nur noch für die Besucher getragen werden. Dies bedingt die melancholische Grundstimmung des Buches.
„Diesmal drehte der Orkan vor Allerheiligen am Ende doch noch auf Nordost, bevor das Wasser zu hoch steigen konnte. Er riss dann nur die Kiefern aus dem Dünensand. Der Inselwald sieht aus, als hätten Riesen einmal durchgejätet.“ (S. 102)
Ein sprachlich interessantes Buch, das mir zu handlungsarm war, um mich zu fesseln. Dörte Hansens frühere Romane haben mich mehr angesprochen. Wer einen sehr ruhigen Erzählfluss schätzt, wird es mehr mögen als ich.
Zur See, Dörte Hansen, Penguin Verlag, München, 2022, 256 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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