Vor hundert Jahren gab es noch nicht so viele schreibende
Frauen – das hört frau immer wieder als Antwort auf die Frage, warum der
Literaturkanon so männlich (und weiß) ausfällt. Das Auswahlkriterium sei selbstverständlich
nur die literarische Qualität, nicht das Geschlecht oder die Herkunft.
Wirklich?
Das vorliegende Buch ist eine wunderschön gestaltete Schatzkiste,
die diese Behauptungen ad absurdum führt. Es versammelt 101 Geschichten,
ausschließlich von Autorinnen der Moderne, also der Geburtsjahrgänge von ca. 1845
bis 1920, aus allen Teilen der Welt. Die Werke wurden aus 25 verschiedenen
Sprachen übersetzt und liegen teilweise erstmals auf Deutsch vor. Wie viel aus
dem Koreanischen, Persischen oder der Sprache Urdu übersetzte Prosa kennt Ihr? Wie
viele Autorinnen vom afrikanischen Kontinent oder aus Neuseeland sind Euch
geläufig? Eben. Aber es gibt sie – nicht erst seit gestern - und sie sind
großartig!
Ein umfangreiches Nachwort der Herausgeberin Sandra Kegel
ordnet die literarische Epoche der Moderne ein und informiert über die Lebens-
und Arbeitsbedingungen schreibender Frauen in aller Welt. Kegel erklärt die Herangehensweise
an die vorliegende Zusammenstellung, in der große, bekannte Namen wie Agatha
Christie, Virginia Woolf oder Selma Lagerlöf neben in Deutschland völlig
unbekannte Autorinnen wie Tekahionwake oder im Schatten von Männern stehenden
Frauen wie Sofia Tolstaja (die Ehefrau von Lew Tolstoi) gestellt werden. Um
tiefer eintauchen zu können, werden im Anhang die Lebensgeschichten aller enthaltenen
Autorinnen dargestellt.
Die Kurzgeschichten in dieser Sammlung sind so
unterschiedlich und vielfältig wie die Frauen der Welt es sind. Da gibt es z.B.
„Eine ganz überflüssige Bekanntschaft“ (S. 5 ff), in der Sofia Tolstaja die
Begegnung einer Dame mit einem Musiker beschreibt, der ihr ein ungeahnt intensives
Hörerlebnis beschert.
Die Waliserin Kate Roberts erzählt in „Heimkehr“ (S. 388 ff)
von einer Frau, die gleichzeitig alt und doch ein junges Mädchen, verstrickt in
ihre Kindheitserinnerungen zu sein scheint, übersetzt aus dem Walisischen.
Einerseits als altes Weiblein verspottet von Schuljungen, spricht sie
andererseits mit ihren Eltern und zitiert walisische Kinderreime wie früher.
Besonders gefallen hat mir eine Kurzgeschichte von Marlen Haushofer
mit dem Titel „I’ll Be Glad When You‘re Dead…“ (S. 763 ff). Es ist das Gespräch
einer geschiedenen Ehefrau mit ihrer Freundin, von dem wir nur den Part der
monologisierenden Ehefrau lesen, die sich Kognak trinkend den Abend versüßt,
während sie der Freundin (und sich selbst) den Grund des Scheiterns ihrer Ehe erklärt.
„Du bist also weggefahren, und ein paar Monate später hab‘ ich
gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Ja, sofort hab‘ ich’s gemerkt. Karl
hat nämlich angefangen zu seufzen. Ja, zuerst hab‘ ich auch gelächelt, warum
sollte ein Mann, der den ganzen Tag angestrengt arbeitet, am Abend nicht
seufzen? Später hab‘ ich mich geärgert über die Seufzerei. Er hat es nicht
einmal gemerkt, ist nur still in seinem Sessel gesessen und hat geseufzt.
Was? Wie oft, ich hab‘ es nicht gezählt, findest du das so
wichtig? Vielleicht durchschnittlich jeden Abend drei-, viermal. Das ist schon
möglich, dass dein erster Mann mindestens zehnmal geseufzt hat und dein
jetziger es auch tut, das gehört doch nicht zur Sache. Es ist eben ein
Unterschied, wer seufzt. Und wenn Karl drei-, viermal geseufzt hat, so hat das
mehr zu bedeuten, als wenn einer deiner Männer hundertmal seufzt.“ (S. 767)
Eine völlig andere Weltsicht begegnet der Leserin in der Geschichte
„Eine Heidin in St. Paul’s Cathedral“ (S. 53 ff), übersetzt aus dem
Onondaga-Englisch, verfasst von der indigenen Kanadierin Tekahionwake. Sie wurde
als Tochter eines Mohawk-Häuptlings und einer Engländerin in einem Reservat in Ontario
geboren. Anlässlich ihres ersten Besuchs in der Hauptstadt der Kolonialmacht
England schildert sie ihre Eindrücke der alten Welt. Den König von England
bezeichnet sie als den „Großen Weißen Vater“, der „im Hohlraum seiner Hände den
Frieden zwischen den einst miteinander verfeindeten Roten und Weißen bewahrt“,
der in seinem „Wigwam“ lebt, „von den Bleichgesichtern Buckingham Palace
genannt“ (S. 53). Sie betritt die Kathedrale und weiß, dass sie sich in einem fremden
sakralen Raum befindet.
„Als ich durch seinen Eingang trat, war mir, als sei es die
immerwährende Siedlungsstätte des Großen Geistes vom weißen Mann.
Musik nistete überall. Sie dröhnte mir in den Ohren wie die
fernen Kadenzen der Sault-Ste.-Marie-Stromschnellen, die aufsteigen und
emporspringen und hochbranden – wie ein Sturm, der Tannenwald durchtost -, wie
das ferne Anschwellen eines indianischen Schlachtgesangs; (…)“ (S. 54)
Ich kann dieser Zusammenstellung mit meiner Rezension nicht
annähernd gerecht werden. Jede einzelne Geschichte wäre der Erwähnung wert. Das
Buch ist ein Geschenk, das seine Leserinnen und Leser lange Zeit erfreuen wird.
Dieses faszinierende Buch
soll auf meinem Lesetisch noch lange liegen bleiben, so dass ich es immer wieder
an anderer Stelle aufschlagen und etwas Neues entdecken kann. Viele, viele Männer
und Frauen sollen sich an diesen schönen Worten und Geschichten erfreuen, von denen
uns etliche so lange gefehlt haben, ohne dass wir es wussten. Und dann wollen
wir noch eine und noch eine und noch eine solche schöne Sammlung mit verschütteten
Perlen haben. Warum sollten wir auf so großartige Literatur weiterhin verzichten?
Prosaische Passionen – Die weibliche Moderne in 101 Short Storys,
Sandra Kegel (Hrsg.), Manesse Verlag, München, 2022, 928 Seiten, 40,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)