Samstag, 19. November 2022

Wir verstehen nicht, was geschieht, Viktor Funk

Die meisten von uns haben viel gelesen über die Schrecken in deutschen Konzentrationslagern. Lager, in denen Menschen unter erbärmlichen Bedingungen leben mussten und an der Zwangsarbeit starben, gab es aber nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in der Sowjetunion. Viktor Funk, den ich auf der Frankfurter Buchmesse hören konnte, hat ein Herzensbuch geschrieben über die Überlebenden des Gulag. Unter Gulag versteht man nicht nur die Lager selbst, sondern im weitesten Sinne das sowjetische System von Verfolgung, Verbannung und Zwangsarbeit in Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst. Unter Stalin erlebte dieses System seinen Höhepunkt.

Der Autor ist studierter Historiker und hat sich wissenschaftlich mit dem Gulag beschäftigt. Nun legt er einen Roman vor, der zwar fiktiv ist, jedoch eine wahre Geschichte zum Vorbild hat. Er beschreibt exemplarisch die Grausamkeit dieses Systems, unter dem die Menschen in der Sowjetunion noch nach Ende des 2. Weltkriegs zu leiden hatten. Es geht um Lew und Swetlana, die sich als Studenten kennen- und lieben lernten. Lew wird im 2. Weltkrieg eingezogen und landet zunächst in deutscher Gefangenschaft. Kaum befreit, wird er von sowjetischen Truppen verhaftet. Wer nicht bis zum Tode kämpfte, sondern lebend in Gefangenschaft geriet, galt unter Stalin als Vaterlandsverräter. Lew wird zu neun Jahren Zwangsarbeit im Lager Petschora in Sibirien verurteilt. Insgesamt 14 Jahre warten Lew und Swetlana aufeinander und halten sich mit ihrer Liebe und Hoffnung am Leben. Sie schreiben einander Briefe unter Umgehung der Zensur und Swetlana schafft es, Lew illegal im Lager zu besuchen.

Der Roman geht der Frage nach, wie Menschen es geschafft haben, unter den widrigsten Bedingungen zu überleben und wie das Lager sie für ihr weiteres Leben geprägt hat. Dabei spielen Befragungen der betagten Überlebenden ebenso eine Rolle, wie die aus der Haft geschriebenen Briefe und Aufzeichnungen.

Anrührend sind besonders Lews Lebensbetrachtungen, die trotz allem voller Dankbarkeit sind. Er weigert sich, wie viele andere Überlebende, seine Haftzeit als verschwendete Jahre anzusehen. Er schätzt seine dort gemachten Erfahrungen und die ihm entgegengebrachte Freundlichkeit, so selten sie auch gewesen sein mag. Die im Lager geschlossenen lebenslangen Freundschaften bedeuten Lew viel. Und mit seiner geliebten Sweta verbringt er den Rest seines Lebens, insgesamt 70 Jahre. Lew zeigt, dass der Mensch sich den Sinn in seinem Leben selbst suchen muss, um nicht zugrunde zu gehen.

Manche Überlebenden können von ihren Erinnerungen berichten, anderen ist das zu schmerzhaft. Viele sind bei der harten Arbeit als „Menschenmaterial“ verbraucht und getötet worden. Worüber aber die wenigsten von ihnen erzählen können, sind die Gefühle von damals. Fakten über die Gebäude und Arbeitsbedingungen im Lager oder die Aufseher, ja, das geht. Aber wer hatte damals schon die Kraft sich zu fragen, wie er sich fühlt?

„‘Entweder Sie leben in dem Moment, oder Sie denken über ihre Angst, Hoffnung und Verzweiflung nach. Und damals hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. (…) Nicht, dass ich nichts fühlte. Im Gegenteil. Die Gefühle waren so intensiv, dass ich nicht über sie nachdenken konnte‘, erklärte Lew.“ (S. 44/45)

Die Geschichte von Lew und Sweta, die auf ein gelungenes Leben zurückblicken, ist berührend und lehrreich zugleich. Sie gibt Einblick in das Leben im Gulag, aber auch das Leben der draußen auf die Internierten Wartenden. Die unglaubliche Kraft der Betroffenen beeindruckt in diesem Buch, das ohne Bitterkeit auskommt. Ich kann es sehr empfehlen.

Wir verstehen nicht, was geschieht, Viktor Funk, Verbrecher Verlag, Berlin, 2022, 158 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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