So könnte man auch den Inhalt dieses autofiktionalen Romans beschreiben. Der Titel weist auf eine Verbindung zu Alkohol hin, aber in Wirklichkeit geht es um alles andere. So erfahren wir zwar schon zu Beginn, dass Christine sich in einer Suchtklinik befindet, aber was sich dort ereignet, wird erst im dritten Abschnitt des Buches geschildert. Zuvor nehmen wir an Christines turbulentem Leben teil, in dem sie studiert, drei Kinder von drei Männern bekommt, mit dem frühen Tod eines geliebten Mannes klarkommen muss und ihre Eltern versterben.
Alkohol spielt in dieser Lebensbeschreibung nur eine marginale Rolle. Ohne den Buchtitel würde es der Leserin vielleicht gar nicht auffallen, dass immer mal eine Flasche Wein geleert wird. Was mir aber auffiel, war, dass mich diese Beschreibung trotz der teilweise dramatischen Umstände nicht emotional gepackt hat. Wieso erzählt sie mir das? Wieso berührt mich das nicht? Worauf will sie hinaus? Genau darauf, auf die fehlende Emotion. Natürlich leidet Christine unter der Erkrankung ihres Mannes und dessen Tod. Natürlich ist es schwierig, allein die Kinder aufzuziehen. Aber Christine funktioniert. Irgendwie gibt es ein Leben, eine Wohnung und Fröhlichkeit. Erst ganz zum Schluss merkt man, dass es sich um eine spiegelnde Oberfläche handelt, in der etwas fehlt: Tiefe und Reflexion.
Im zweiten Abschnitt erfahren wir von Christines Kindheit, die sie mit zwei sehr gebildeten, aber trinkenden Elternteilen erlebt hat. Die Kindheit bleibt bruchstückhaft in der Erzählung. Ja, da war nicht alles schön, aber der „typische“ Trinkerhaushalt wird auch nicht geschildert mit Verwahrlosung und Schlägen. Gibt es einen typischen Trinkerhaushalt überhaupt? Ist der Alkoholismus der Eltern schon die Erklärung für den der Tochter? Nein, das wäre viel zu einfach. Denn Alkohol ist – wie gesagt - nie das Thema. Beziehungen, Gefühle und Bedürfnisse sind das Thema. Denn Sucht ist wie ein Eisberg, erfährt Christine in der Klinik. Sieben Achtel befinden sich unter der Oberfläche und müssen erst trockengelegt werden, um sie zu sehen.
„Während ich trotz Schmerz und Chardonnay alles hinzukriegen scheine und mich das immer verzweifelter macht, wird mir etwas klar. Dass ich nämlich gar nicht trinke, weil ich einen Anlass habe. Sondern dass ich der Anlass bin.“ (S. 218)
Am interessantesten fand ich den dritten Abschnitt des Buches, in dem der gesamte Rest einen Sinn bekommt. Christine bemerkt die fehlende Nähe in ihren Beziehungen zu Eltern, Männern und Kindern. Und zu sich selbst. Sie stellt sich ihren unaushaltbaren Gefühlen, die der Alkohol stets gedämpft hat. Schwierig fand ich bei der Lektüre, dass ich lange Zeit eher unberührt und ohne einen roten Faden zu sehen, durch die Lebensereignisse der Erzählerin gedümpelt bin. Da muss die Leserin diszipliniert dranbleiben an der Lektüre.
Was mich dranbleiben ließ, war der Auftritt von Christine Koschmieder auf der Frankfurter Buchmesse. Sie sprach so fesselnd und offen von ihrem Leben und davon, dass niemand sie von außen als Alkoholikerin erkannt oder benannt hatte. Sie räumt auf mit dem Klischee, dass Alkoholiker „die anderen“ sind, die besoffen auf Parkbänken vegetieren. Ich hätte mir gewünscht, mehr von dieser heute so charismatischen Frau in dem Roman vorzufinden. Aber vielleicht ist sie erst durch die Auseinandersetzung mit sich selbst zu dieser authentischen Frau geworden?
Ein interessantes Buch, das Alkoholismus mal ganz anders schildert, abseits prekärer Verhältnisse. Ein bisschen mehr Führung der Leserin, ein bisschen mehr roter Faden in den ersten beiden Teilen hätten dem Roman gutgetan, ändern aber nichts am erkennbaren Mut und der Hingabe der Autorin.
Dry, Christine Koschmieder, Kanon Verlag, Berlin, 2022, 256 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen