Dienstag, 30. August 2022

Inselzauber, Anka Willamowius

Als Undine nach der Türklinke des weißen Hauses greifen wollte, prallte sie zurück. Beiderseits der Tür starrten ihr zwei leere Fratzen entgegen, die sie aufspießen zu wollen schienen. Abschreckend, diese mannshohen Nixenfiguren, die dem Namen der Buchhandlung Hohn lachten – Inselzauber. Oder hatte sie sich in der Adresse geirrt? Nein, vor ihrer Abreise auf die kleine Insel hatte Undine sich versichert, dass es dort zumindest diesen einen Buchladen gab, eine Voraussetzung für ihre Wahl des Urlaubsorts. Sie schob ihre Brille zurecht und drückte beherzt die Klinke. Die Tür schien verschlossen.

Ärgerlich, dachte Undine, die das einzige von ihr mitgeführte Buch bereits auf der Anreise ausgelesen hatte. Das Einladen neuer Bücher in ihre geliebte Sammlung stellte stets einen Höhepunkt jedes Urlaubs dar, da das Entdecken neuer Buchschätze in unbekannten Läden fern von Zuhause ihr stets besondere Freude machte. Empfehlungen örtlicher Buchhändlerinnen folgte sie gern. Einen Tag gänzlich ohne Lesen zu verbringen, kam für Undine nicht in Frage und war seit ihrem fünften Lebensjahr nicht vorgekommen.

Eine Bewegung im Inneren des Ladens veranlasste Undine zu einem erneuten Versuch an der Tür, die sich nach kräftigem Rütteln schließlich knarrend öffnete. Erleichtert betrat Undine das Geschäft. Ihr erwartungsvolles Lächeln erlosch jedoch schlagartig, als sie die Buchhändlerin hinter dem eine Barriere bildenden Kassentresen erblickte. Die blasse Frau undefinierbaren Alters mit strähnigen mausblonden Haaren lehnte gelangweilt an einem unordentlichen Regal. Ihr Blick war so leer, als sei sie halb erblindet. Sie reagierte nicht auf das Eintreten ihrer Kundin. Das sollte eine Buchhändlerin sein?! Verwundert erinnerte Undine sich an die vor Lesefreude sprühenden Augen und eifrig auf Gedrucktes weisenden Hände anderer Büchermenschen, denen sie sonst in den Geschäften begegnete. Verlegen räuspernd grüße sie und wollte gerade zu einer höflichen Frage ansetzen, da krächzte die Frau hinter dem Tresen „Nehmen Sie das hier. Das nehmen alle.“ und schob ihr ein zerfleddertes Taschenbuch mit grellbuntem Einband hin, dessen Buchrücken bereits Rillen aufwies. Ihren angewiderten Blick mühsam verbergend bat Undine, sich im Laden einmal umsehen zu dürfen. Die Frau hinter der Kasse zuckte kaum sichtbar die Achseln.


Zwar war der Laden alles andere als einladend, schien im hinteren Teil aber einige unordentliche Bücherstapel zu enthalten. Undine war es gewöhnt, auch im größten Buch-Chaos noch Schätze zu finden. Staub wirbelte durch den ungelüfteten Raum, als sie sich zu einem seltsam geformten Buchpodest vortastete. Die lieblos darauf geworfenen Druckwerke schienen schon länger ein klägliches, ungelesenes Dasein zu fristen.

Langsam wurde Undine mulmig. Die Aussicht, diesen ungepflegten Ort ohne neuen Lesestoff verlassen zu müssen, beängstigte sie. Was sollte sie ohne Buch machen, wie ihre einsamen Tage füllen? Sie war für mindestens eine Woche auf dieser Insel gestrandet, bis das nächste Schiff zum Festland ging. Nicht einmal eine Bibliothek gab es in diesem intellektuellen Ödland!

Auf der Suche nach lesenswerter Lektüre, von der sie die aufgestapelten Groschenromane ausschloss, umrundete sie das weiße halbhohe Podest und stellte fest, dass es die Form einer liegenden Sanduhr hatte. Ganz oben auf der schimmernden Oberfläche lag kein einziges Buch. Beim Darüberbeugen erschrak sie, als sie in ihr eigenes Spiegelbild sah. Hinter dem Bild ihrer selbst erkannte sie, dass das Podest hohl war und den Zugang zum wassergefüllten Untergeschoss des merkwürdigen Hauses darstellte. Undine schüttelte sich. Wasser und Bücher passten nun wirklich nicht zusammen! Kein Wunder, dass manches Exemplar schon ganz wellige Seiten aufwies.

Aus der Tiefe des Wassers stieg ein schwacher Lichtschein herauf, der von der Stehlampe einer alten Frau im Untergeschoß ausging, die dort zwischen Bücherregalen saß und las. Undine begann an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln, berührte die feuchte Oberfläche vorsichtig mit der Hand und wurde augenblicklich in das Bassin hineingesogen. Perplex, jedoch völlig trocken, kam sie auf ihren wackligen Stöckelschuhen neben der alten Frau im Untergeschoß zum Stehen. Die Greisin sah mit weisen, freundlichen Augen von ihrer Lektüre auf.

„Ich – ich suche ein Buch…“; stotterte Undine verwirrt, „Zum Lesen. Es ist wichtig!“

„Ja, natürlich ist es das.“ Die weißhaarige Dame lächelte wissend. „Wir lesen, um uns selbst zu finden.“

Gespannt erwiderte Undine deren Blick und meinte für einen Moment, ihr eigenes Gesicht in dem der alten Frau wiederzuerkennen. Auf die Regale weisend gestattete die Frau Undine sich umzusehen. Interessiert zog Undine Band um Band heraus, nur um festzustellen, dass alle Bücher von derselben Autorin verfasst worden waren und es sich ausnahmslos um Romane handelte, die von derselben weiblichen Hauptfigur erzählten, allerdings in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Interessant und lesenswert erschienen sie alle, doch zog es Undine zu keinem Exemplar im Speziellen. Das hatte sie noch nie erlebt. Ratlos blickte sie umher.

Hinter sich hörte Undine die weise alte Frau sprechen: „Alles was du brauchst, ist in dir.“

Die Worte klangen nicht nur in Undines Ohren, sondern formten sich nun auch vor ihren Augen, wie in die Luft projiziert. Verwundert fuhr sich Undine mit dem Ärmel über die Brille, als könne sie die Buchstaben wegwischen. Sogleich konnte sie auch diese Handlung vor ihren Augen schwebend in Worten beschrieben sehen. Eine Sekunde noch zauderte sie, suchte den Blick der Alten und nickte ihr dankbar zu. Dann kickte sie entschlossen die Pumps von ihren Füßen und setzte barfüßig einen Schritt auf das letzte Wort vor sich. Auf bunt bedruckten Linien spazierte sie nach oben durch den wässrigen Vorhang, an den Bücherstapeln vorbei aus dem Laden in Richtung Meer und blätterte ihre eigene Geschichte auf.

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Anka Willamowius, geschrieben im August 2022 im Rahmen eines Workshops zum kreativen Schreiben, Fotos von der Autorin

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