Seit ich mit etwa 10 Jahren zum ersten Mal das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatte, habe ich mich gefragt: Was ist mit Anne passiert, nachdem das Versteck im Hinterhaus entdeckt worden ist? Ich wusste, dass sie im KZ Bergen-Belsen gestorben ist. Aber wie, wann und unter welchen Umständen?
Das vorliegende Buch schließt die große Lücke, die diese Frage bisher hinterlassen hat, und zwar nicht nur bezüglich Anne Frank selbst, sondern bezüglich aller acht Untergetauchten aus dem Amsterdamer Hinterhaus, nämlich ihrer Eltern Edith und Otto Frank sowie ihrer Schwester Margot, dem Ehepaar Auguste und Hermann van Pels nebst Sohn Peter und dem Zahnarzt Dr. Fritz Pfeffer.
Anne Frank muss etwa Mitte Februar 1945 im KZ gestorben sein, also vor etwa 77 Jahren. Wie kann ein Buch nach so langer Zeit ihre letzten Lebensmonate nachzeichnen? Dieses Werk ist das Ergebnis jahrelanger Forschung vieler Personen. Einige Zeitzeugenberichte lagen bereits kurz nach dem Krieg vor. Aber erst jetzt wurden diese systematisch zusammengetragen und durch andere Indizien ergänzt. Viele Unterlagen wie etwa Lager- und Transportlisten wurden von den Nazis vor Kriegsende vernichtet, viele Menschen, mit denen die acht Untergetauchten zusammen interniert waren, sind ermordet worden, konnten nach dem Krieg aufgrund ihrer Traumatisierung nicht detailliert berichten oder sind inzwischen verstorben. Dennoch ist es Wissenschaftlern gelungen, die Umstände der einzelnen Stationen zu rekonstruieren, indem sie ermittelten, wie es zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen ist, auch wenn kein Zeuge konkrete Angaben zum Schicksal von Anne oder ihrer Familie machen konnte. Dieses Buch widmet der Methodik dieser Aufklärung viel Platz, um die Ergebnisse besonders glaubhaft zu machen. Jede Quelle wird einzeln benannt und verifiziert, verbleibende Lücken deutlich gemacht. Es wird sogar die Frage behandelt, inwiefern sich Erinnerungen von Zeitzeugen mit der Zeit, durch die Art der Befragung oder aufgrund der erlittenen Traumatisierung verändert haben können.
Dieses Buch ist keine einfache Lektüre. Wer „nur mal schnell wissen will, was mit Anne war“, sollte die Finger davon lassen. Das Werk ist sehr wissenschaftlich mit hunderten von Fußnoten und Abbildungen. Es begnügt sich nicht damit, Ergebnisse mitzuteilen. Sehr konzentriertes Lesen ist erforderlich, um nicht den roten Faden zu verlieren. Das Buch ist nicht nach den einzelnen Personen gegliedert, sondern nach den Stationen / Orten, durch die die Gruppe und später die einzelnen gegangen sind. Jedem Kapitel ist eine ausführliche Einordnung des Ortes und seiner Umstände vorangestellt. Die Gruppe der Acht ist gemeinsam nach Auschwitz gekommen. Das Werk stellt dezidiert die Entstehung und Entwicklung des KZs Auschwitz dar, um zu erläutern, dass es einen entscheidenden Unterschied für die Überlebenschance gemacht hat, zu welchem Zeitpunkt ein Häftling dort angekommen ist. Erst danach wird berichtet, was über das konkrete Schicksal der Person herausgefunden werden konnte.
Vor der Lektüre war mit nicht bewusst gewesen, an wie vielen unterschiedlichen Orten Anne vor ihrem Tod interniert gewesen ist. Immerhin lagen nur ca. 7 Monate zwischen der Entdeckung des Verstecks am 4. August 1944 und ihrem Tod im Februar 1945. Zuerst ging es in das Untersuchungsgefängnis Huis de Bewaring in Amsterdam, dann in das niederländische Durchgangslager Westerbork. Ebenfalls nicht bewusst war mir, dass das KZ Auschwitz eine Art Drehkreuz zur Weiterverteilung von Häftlingen auf andere Lager gewesen ist. Anne und Margot sind erst nach mehreren Wochen von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht worden. Auguste van Pels wurde hingegen nach Raguhn deportiert, Peter van Pels nach Mauthausen und Melk, Fritz Pfeffer nach Neuengamme. Überlebt hat nur Annes Vater Otto Frank.
Nicht nur die detailreiche Darstellung macht das Lesen anspruchsvoll, sondern vor allem die wörtlich wiedergegebenen Zeitzeugenberichte, welche die sinnlose Grausamkeit in den Lagern und den Sadismus der Aufseher schildern. Annes Gesicht, das mir von Fotos bekannt ist, sah ich vor mir und wusste, dass ihr dies alles angetan worden ist, nicht einer unbekannten Gruppe von Menschen. Ich konnte das Buch nur in kurzen Abschnitten lesen und musste es immer wieder zur Seite legen, um damit umgehen zu können.
„Eine andere Zeugin des Schicksals von Edith, Anne und Margot ist Rosa de Winter-Levy. Sie erinnert sich, dass Anne mit dem Leid und dem Schmerz ihrer Mitgefangenen mitfühlte und über das, was sie sah, weinen musste:
Und sie war es auch, die bis zuletzt sah, was ringsum geschah. Wir sahen schon längst nichts mehr. (…) Aber Anne war ohne Schutz, bis zuletzt. (…) Sie weinte. Und Sie können nicht wissen, wie früh schon die meisten von uns mit ihren Tränen am Ende waren.“ (S. 164)
Es ist ein wichtiges Buch, auf das ich – ohne es zu wissen – seit Jahrzehnten gewartet habe. Vielleicht könnte man eine abgespeckte Version erstellen, damit das Werk mehr Leserinnen und Leser erreicht. Die wissenschaftliche Komplexität ist eine Herausforderung, lohnt aber die Mühe.
Nach den Tagebuch, Bas von Benda-Beckmann, aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas, Secession Verlag, Zürich 2021, 384 Seiten, 28,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)