England 1933, in einem kleinen Dorf in Suffolk, es ist Sommer. Edith ist 14 Jahre alt und ein Bücherwurm. Sie lebt mit ihren Eltern, dem älteren Bruder Frank und zwei Knechten auf dem Hof, wo der Rhythmus der Farmarbeit jedes Jahr gleich und ihre Welt klein ist. Der große Krieg ist noch nicht lange vorbei, viele Männer sind nicht zurückgekommen. Es ist hart vom Getreideanbau zu leben. Alle müssen mithelfen und doch reicht es nur für das Nötigste. Der Pflug wird noch von Pferden gezogen, der Betrieb moderner Maschinen ist zu teuer. Dennoch hat Edith ein Auge für die Schönheit der Natur um sie herum, die sie poetisch und schwelgerisch beschreibt. Sie befindet sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Die Schule hat sie beendet, einen Liebsten hat sie noch nicht, sie steht an der Schwelle des Erwachsenwerdens, von dem sie noch so wenig weiß, und macht sich Gedanken, was sie wohl vom Leben erwarten darf.
Da kommt die Journalistin Constance FitzAllen aus London ins Dorf. Sie möchte über das urtümliche bäuerliche Leben schreiben, befragt die Leute nach alten Traditionen, Aberglauben und handwerklichen Dingen. Dabei ist sie selbst eine kleine Sensation in ihrer Männerkleidung und mit ihrem unverfrorenen Auftreten. Edith, die auch in der Schule keine Freundin hatte, tut Constances Aufmerksamkeit wohl. Sie freundet sich mit der Erwachsenen an und lässt sich von einem ganz anderen Leben jenseits von Heirat und Farmarbeit erzählen. Constance redet – als einzige Frau – auch von Politik. Hat das etwas mit Ediths Leben zu tun?
„Ich fand Constance beim Hinterhaus, wo sie in unseren Kupferkessel linste, der gerade leer war. „Es ist so schade, dass ihr nicht mehr eure eigene Butter und euren eigenen Käse macht“, sagte sie. „Das habe ich deiner Mutter vorhin schon gesagt. Wir müssen die alten Fertigkeiten unbedingt erhalten.“
Das also hatte Mutter gegen sie aufgebracht.“ (S. 35/36)
Der Roman fängt die Stimmung der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein, sowohl die ländliche Idylle, als auch die harte Arbeit und die wirtschaftliche Not, dazu die politische Stimmung. Edith erlebt die erste Annäherung eines Mannes, die Erwartungen an sie als junge Frau und bekommt die Alternative des Stadtlebens vor Augen gestellt. Vor allem aber sieht sie zum ersten Mal eine Frau, die ihre eigenen Gedanken äußert und sie für wichtig hält, die ihr Leben ohne Ehemann und Familie gestaltet. Die Frauenfreundschaft, die zunächst so harmlos daherkommt, wird jedoch zunehmend geprägt von Constances politischer Einstellung, von der Edith zunächst nicht viel begreift, bis die Ereignisse sich zuspitzen.
Edith ist eine sehr liebenswerte Protagonistin, die ich gern begleitet habe, die mir jedoch ein bisschen leidgetan hat in ihren Beschränkungen, die ihr als Mädchen auferlegt werden. Sie hat keinen Zugang zu Informationen, weder über Familieninterna, noch über das Dorf oder darüber hinaus. Sie muss die Folgen ihrer Naivität und Isolation allein tragen. Dennoch ist es keine trübsinnige, eher eine nachdenkliche Geschichte. Die Fülle des Erntesommers ist förmlich zu riechen und Ediths Jugend und Neugier tragen die Geschichte.
Ein Sommerbuch mit Tiefgang, das uns daran erinnert, wie viele Wahlmöglichkeiten das Leben bietet oder bieten sollte und daran, dass wir junge Menschen nicht allein lassen dürfen, sondern mit ihnen über das Leben in allen Facetten sprechen sollten, um als Gesellschaft weiterzukommen.
Vom Ende eines Sommers, Melissa Harrison, aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, DuMont Verlag, Köln 2021, 320 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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