Freitag, 30. Juli 2021

Das Terrain, Frank Steinhofer

Hier kommt ein überraschendes Buch, auf das ich nie aufmerksam geworden wäre, hätte nicht der sympathische Autor in Hamburg eine Lesung in einer Buchhandlung gemacht. Es handelt sich um den Debütroman des Journalisten Frank Steinhofer, der u.a. für den Spiegel, aber auch für das Kunstmagazin Dare geschrieben hat. Alle seine Kenntnisse scheint der Autor verwoben zu haben zu dieser sehr dichten, ausgesprochen komplexen Geschichte, die größtenteils in Mexico-City spielt.

Der junge Hamburger Architekt Viktor interessiert sich für alterative Baumformen, die weniger in die Natur eingreifen als Betonbauten. Er experimentiert mit Lehm als Baustoff, was von manchem Branchenkollegen belächelt wird. Viktor erhält den Auftrag, für die in Mexiko ansässige reiche Erbin und Kunstsammlerin Fernanda einen neuartigen Museumsbau zu planen, der mitten im mexikanischen Dschungel errichtet werden soll. Abgesehen vom Standort soll auch die dort ausgestellte Kunst sich deutlich von anderen Museen unterscheiden, nämlich moderne mexikanische Kunst und Installationen zeigen, nicht etwa die Gemälde der immer gleichen alten weißen Männer. Das Projekt reizt Viktor, der auf der Suche nach einem neuen Bewusstsein, innerem Wachstum und mehr Harmonie mit der Umwelt ist. Doch Mexiko ist ihm fremd. Die Kultur des Landes überrascht, begeistert und erschreckt ihn gleichermaßen. Er findet ein Team in Mexiko vor, in dem die Rollen der Mitglieder nicht auf Anhieb klar werden. Da gibt es Damion, der schönen Frauen und Macht nicht abgeneigt scheint. Dann ist da Ángel, der das Kämpfen als Soldat in Guatemala gelernt hat und das Projekt beschützen soll. Der Bauprozess wird dokumentiert von der Filmemacherin Klara, der Viktor gerne auch privat näherkommen würde. Und mittendrin findet sich immer wieder Viktors bester Freund Benedetto.

Man sieht schon, das Personal dieses Romans ist umfangreich und hier keineswegs vollständig aufgezählt. Die Geschichte wird in Form eines Countdowns auf den großen Showdown – die Eröffnung des Museums - hin erzählt, von der Idee über die Planung bis zur Ausführung. Erst mit der Zeit stellt sich heraus, wer neben dem Museumsprojekt noch ganz andere eigene Interessen verfolgt und in welcher Beziehung die einzelnen Personen zueinanderstehen.

„Sie nahm eine weitere Tarot-Karte auf und betrachtete sie lange. „Was meinst du: Was symbolisiert Stärke?“ Sie drehte die Karte auf und hielt sie Viktor direkt vors Gesicht. „Bei Stärke fällt einem wohl das Bild eines mutigen Mannes ein. Aber, schau her!“ Viktor sah das Bild einer Frau mit langem Haar. Zu ihren Füßen kauerte eine wilde Kreatur mit großen Reißzähnen. Mit nur einer Hand hielt die Frau das Maul der Kreatur in Schach, ganz ohne Mühe. „Was also ist Stärke?“, fragte Fernanda und ließ eine Sekunde verstreichen. „Das Biest mit Zärtlichkeit bezwingen. Besiege das Biest mit Zärtlichkeit“, wiederholte sie.“ (S. 150)

Mit philosophischer Tiefe werden viele große Themen angepackt, etwa der internationale Kunstbetrieb, das Problem der Beutekunst aus der Kolonialzeit, Klischee und Wirklichkeit des Lebens in Mexiko, von Drogenhandel über staatliche Gewalt bis hin zu Homosexualität, aber auch die Beziehung zwischen Mensch und Natur sowie diverse Formen zwischenmenschlicher Beziehungen und sich wandelnder Geschlechterbilder zwischen Oberflächlichkeit und Intimität. Viktor geht durch ein Wechselbad der Gefühle. Er erlebt eine Naturkatastrophe, eine neue Liebe, aber auch neue Facetten einer alten Freundschaft.

Auf nur 240 Seiten schafft der Autor ein dichtes Geflecht von Personen, Orten und Motiven. Die Sprache ist teilweise poetisch, manchmal philosophisch und immer basiert auf vielen Beobachtungen, die der Autor ersichtlich selbst gemacht oder aus Interviews mit anderen Menschen gesammelt hat. Reale mexikanische Künstler haben mit ihren Werken zu der Romanhandlung beigetragen. Anleihen bei großen Schriftsteller:innen und Denker:innen werden gemacht und am Schluss des Buches offengelegt. Ich muss gestehen, dass es mir schwergefallen ist, dieses Werk in seiner gesamten Tiefe vollständig aufzunehmen und zu verarbeiten. Das Buch ist beeindruckend, greift sehr aktuelle und relevante gesellschaftliche Themen auf, ist aber nicht einfach zu lesen. Besonders bei der Lesung habe ich den Eindruck gewonnen, dass Frank Steinhofer ein sehr reflektierter Mensch ist, der viel Interessantes zu sagen hat. Man müsste das Buch wahrscheinlich mehrfach lesen, um ihm wirklich gerecht zu werden.

Ein komplexer Roman, der nach neuen Wegen sucht und der Konzentration bedarf. Überraschend und beeindruckend.

Das Terrain, Frank Steinhofer, Secession Verlag, Berlin 2021, 240 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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