Im Mittelpunkt steht Huma, die seit ihrer Geburt ein schweres Erbe zu tragen hat. Dabei weiß sie nicht einmal, worum es geht. Es gibt ein Familiengeheimnis, für das sie anscheinend „geopfert“ werden soll. Als Erwachsene kommt sie vom Festland nach Korsika an den Ort ihrer Kindheit zurück um die Umstände zu ergründen.
Huma lebt als Kind mit ihren Eltern Lavi und Alice im Familienanwesen „Villa Alcyon“ auf Korsika. Im Obergeschoss wohnt May, ihre Großmutter väterlicherseits. May stammt aus der alten korsischen Familie der Pietris und heiratete Gabriel, den Spross der Benedetti-Familie. In diesen konservativen Kreisen ist Alice ein Fremdkörper, da ihre Eltern Findelkinder nicht näher bekannter Herkunft vom französischen Festland waren. Allerdings ist das nicht der einzige Grund, warum mancher die Nase über Alice rümpft. Schon die ersten Jahre in Humas Leben sind davon gezeichnet, dass ihre Bedürfnisse keine Rolle für die Erwachsenen spielen. Die Eltern sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch in ihrem sechsten Lebensjahr muss sie in den ersten Stock zu May ziehen und sogar das Bett mit ihr teilen. May bewacht und vereinnahmt das Kind, nörgelt an ihr herum und behandelt sie wie einen Hund. Warum lassen die Eltern das zu? Schließlich wissen sie, dass May ihre Schwiegertochter Alice hasst und dies nun ohne Scheu an Huma auslässt. Warum ist May derart bösartig?
„Wird Huma in der Schule nach den Berufen ihrer Eltern gefragt – auf den klassischen Frageborgen zu Anfang des Schuljahrs -, kennt sie sie nicht. Später wird sie denken, dass sie schon damals etwas hätte ahnen müssen. Aber wie? Welchen Maßstab sollte sie zugrunde legen?“ (S. 78)
Der Roman lässt uns teilhaben an Humas Entwicklung, in der sie sich von der Vergangenheit befreien will. In Rückblenden erfahren wir etwas über die Generation der Groß- und Urgroßeltern mit ihren persönlichen Verstrickungen. Huma fragt sich, welche schrecklichen Umstände so viel Gewalt und Unterdrückung in ihrer Kindheit rechtfertigen könnten. Und wie sie ihre Identität bewahren, aber Fehler und überkommene Vorstellungen der vorigen Generationen ablegen kann. Als erste in der Familie läuft sie nicht weg, sondern stellt sich diesen Fragen, durchbricht die Sprachlosigkeit.
Die Geschichte ist sehr spannungsvoll geschrieben. Kleine Andeutungen bringen die Leserin auf die Spur des Familiengeheimnisses. Empathisch ist Humas Charakter geschildert, so dass ich mit ihr mitgelitten und sie innerlich angefeuert habe, sich unabhängig von den Erwachsenen zu machen. Die beschriebenen dysfunktionalen Familienstrukturen dürften gar nicht so selten sein. Ungewöhnlich ist aber die Strenge, mit der die Familie versucht die Fassade aufrecht zu erhalten. Ich habe den Roman an zwei Tagen eingeatmet.
Bemerkenswert ist die wunderschöne Sprache des Buches, die alle Sinne anspricht. Das alte Haus „kommuniziert“ mit der Außenwelt, im Marmor der Treppe sind Gestalten zu erahnen. Die Autorin benutzt originelle Bilder, die mir sehr gefallen, z.B. dies:
„Humas Körper ist ein kleines Etwas, das riecht wie ein minimal zu lang gebackener Kuchen. Süß und rauchig. Duftend und schön angerichtet.“ (S. 29)
Eine spannende Familiengeschichte, eingebettet in die Geschichte Korsikas, die den Leser gefangen nimmt. Für mich ein Pageturner.
Sieben Tage Windstille, Laure Limongi, aus dem Französischen übersetzt von Valerie Schneider, mareverlag, Hamburg 2021, 272 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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