Der Roman wurde 1957 erstmals in Norwegen veröffentlicht. Karl Ove Knausgård bezeichnete ihn als „besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde“ (vgl. S. 274). Der 1970 verstorbene Autor hat auch „Das Eis-Schloss“ geschrieben, ein Buch, das mich sehr bezaubert hatte. Die deutsche Übersetzung war für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 nominiert. Das angefügte Nachwort von Judith Hermann ist sehr erhellend, warum dieser Roman als so bedeutend eingestuft wird.
Die Geschichte handelt von dem Geschwisterpaar Mattis und Hege, die in einem Dorf in Norwegen leben. Seit die Eltern verstorben sind, sorgt die stille 40jährige Hege durch Strickarbeiten für den bescheidenen Lebensunterhalt der Geschwister. Der 37jährige Mattis kann dazu nichts beitragen, da er geistig behindert ist. Erzählt wird ausschließlich aus Mattis‘ Sicht. Er leidet darunter, dass die Leute im Dorf ihn den Dussel nennen. Er nimmt schmerzlich wahr, dass er trotz aller Mühen mehr Schaden als Nutzen verursacht, wenn er zu arbeiten versucht. Ob es Feldarbeit oder Holzfällen ist, seine Gedanken gehen überkreuz und verheddern sich mit seinen Händen. Auch das Reden mit anderen fällt ihm nicht leicht, da diese oft nicht verstehen, was Mattis meint oder die Worte nicht so herauskommen, wie Mattis gern möchte. Er weiß, dass andere klug und schnell sind, er aber eher nicht. Dabei wünscht er sich sehr, ein Mädchen würde ihn gernhaben oder dass er eine feste Arbeit finden könnte, für die er geeignet ist.
Mattis beobachtet seine Umwelt, vor allem die Natur sehr genau. Er sieht Zeichen, etwa wenn eine Schnepfe ihren Balzflug gerade über seinem Haus ausführt oder der Blitz an einer bestimmten Stelle einschlägt. Oft versucht er, Hege von seinen Beobachtungen und Träumen zu berichten, ist dann aber enttäuscht, wenn sie deren besondere Bedeutung nicht erkennt. Auch manche Wörter sind so bedeutsam für Mattis, dass man bei ihrer Benutzung vorsichtig sein muss. Etwa die Wörter Messer oder Blitz könnten wirklich etwas Scharfkantiges, Gefährliches hervorbringen, wenn man sie zum falschen Zeitpunkt ausspricht. Aus derartigen Zeichen liest Mattis, dass es alsbald zu einer großen Veränderung in seinem Leben kommen wird. Ob diese gut oder schlecht sein wird, ist ungewiss. Wenn nur Hege ihn nicht verlässt, denkt Mattis, denn allein könnte er nicht zurechtkommen.
„Psst, da war es. Das ruckartige Flattern, der Vogel selbst schemenhaft und rasch in der Luft direkt über dem Haus, jetzt in der entgegengesetzten Richtung. Und wieder weg, verborgen im weichen Zwielicht und den schlafenden Baumwipfeln.
Da sagte Mattis laut:
„Ja, das ist der Schnepfenstrich.“
Er wusste nicht, warum er das sagte und woher er es hatte. Weniger konnte er nicht sagen oder tun – und niemand hörte ihn dabei.
Es fühlte sich an, wie wenn nach langer, schwerer Zeit etwas überstanden war.“ (S. 27)
Die langsame, oft umständliche Erzählweise spiegelt Mattis‘ verschlungene Gedankengänge wider, in denen er sich oft im Kreis dreht. Andererseits zeigt sie Mattis‘ Sensibilität und Empfänglichkeit für das Magische im Alltäglichen, die wirklich rührend sind. Er ist ein warmherziger Mensch, der nur im Einklang mit der Welt sein möchte. Die eine Frage treibt ihn um: Warum ist alles, wie es ist? Aber niemand kann ihm eine Antwort darauf geben.
Das Erzähltempo war für meinen Geschmack zu langsam. Ich werde ungeduldig, wenn die Natur zu lange beschrieben wird. Dennoch ist die innige Geschwisterliebe zwischen der geduldigen Hege und dem etwas störrischen Mattis herzerwärmend. Ich konnte die raue norwegische Landschaft am See vor mir sehen, mit den Spuren, welche die Vögel hinterlassen. Den gleichen Zauber wie „Das Eis-Schloss“ hatte die Geschichte für mich leider nicht.
Der Roman lässt den Leser mit dem behinderten Mattis mitleiden, der in seiner eigenen Welt voller Geheimnisse lebt, aber an seiner Unfähigkeit im Alltag fast verzweifelt. Die Langsamkeit seiner Gedanken ist nichts für Ungeduldige.
Die Vögel, Tarjei Vesaas, aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Guggolz Verlag, Berlin 2020, 278 Seiten, 23,00 EUR
(Die Rechte am Coverbild liegen beim Verlag.)
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