Helga Schubert ist eine weise alte Frau, inzwischen 81 Jahre alt. Sie erlebte als Kind den 2. Weltkrieg, dann die DDR, arbeitete als Psychotherapeutin und hat ihr Leben lang geschrieben. Sie hat viel erlebt, auch viel Schweres, aber sie beschreibt das alles ohne Bitterkeit. Ihr Buch ist keine chronologische Autobiographie, sondern einzelne Geschichten zu Themen oder Episoden ihres Lebens, erzählt mit einem liebevollen Blick auf die Welt. Heute lebt Helga Schubert in einem kleinen Dorf in Mecklenburg, zusammen mit ihrem Mann. Im Alter von 80 Jahren gewann sie als älteste Teilnehmerin aller Zeiten den Ingeborg Bachmann-Preis für die Geschichte „Vom Aufstehen“, die in diesem Band enthalten ist. Das Buch war nominiert für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse.
Die erste Geschichte beschreibt Helga Schuberts Sehnsuchtsort, der ihr ein Leben lang schöne Erinnerungen schenkte. Nachdem ihr Vater im Krieg gefallen war, ohne dass sie ihn kennengelernt hatte, verbrachte sie ab 1947 viele Sommerferien in Greifswald bei ihrer Großmutter väterlicherseits. Sie hatte einen großen Obstgarten. Dort konnte man in einer Hängematte träumen und lesen. Dies erlaubte Helgas Mutter, obwohl ihr die Schwiegermutter und auch Helgas große Ähnlichkeit zu dieser verhasst war.
In vielen Geschichten taucht die schwierige Beziehung zur Mutter auf. Diese lässt in über 100 Lebensjahren keinen Zweifel daran, dass sie kein Kind haben wollte, Helga ihr fremd und unverständlich ist und sie keine wirkliche Liebe zu ihr empfinden konnte. Eine Beziehung voller Übergriffigkeiten und schlimmen Kränkungen ist die Folge. Dennoch wird Helga Schubert selbst Mutter.
Helga Schubert hat über Jahrzehnte in Ost-Berlin gelebt und gearbeitet. Als Mitglied des Schriftstellerverbands der DDR genießt sie Privilegien, darf ins westliche Ausland reisen. Dennoch hat sie schon früh mit einer Übersiedlung in den Westen geliebäugelt. Aber immer kam etwas dazwischen, so dass sie bis zur friedlichen Revolution im Osten bleibt.
„Andere mussten beim Fluchtversuch sterben oder nach ihrem Ausreiseantrag Demütigungen hinnehmen, wir Schriftsteller durften uns Gründe für unsere Anträge auf ein Dienstvisum mit Rückkehrerlaubnis am selben Abend ausdenken:
Ein Kollege wollte sich genau den Ort ansehen, an dem sich Heinrich von Kleist am Wannsee erschoss, ich wollte in der Westberliner Staatsbibliothek, obwohl ich sie vielleicht auch irgendwo im Osten in einer Unibibliothek gefunden hätte, die Akten von Denunziantinnen der NS-Zeit vor den Nachkriegsgerichten lesen.“ (S. 28)
Einige ihrer Bücher
dürfen nur im Westen, nicht aber in der DDR erscheinen, Preise darf sie nicht
annehmen, die Stasi beobachtet sie. All das und noch viel mehr beschreibt Helga
Schubert in ihren einzelnen Geschichten, die in der Zusammenschau ein
Kaleidoskop ihres Lebens ergeben.
Menschlich, nachvollziehbar und sympathisch schreibt Helga Schubert. Ich bin ihr gern durch ihre Gedanken gefolgt, die manchmal mit Alltäglichem wie dem Aufstehen beginnen und dabei doch die großen Themen des Lebens miteinschließen. Unaufgeregt und leise sind die Geschichten dieses langen Lebens. Ich wünsche mir, dass ich in der letzten Phase meines Lebens so im Frieden mit mir sein werde wie die Autorin es zu sein scheint. Ich kann nur hoffen, dass ihre früheren Werke alsbald wieder aufgelegt werden. (Bei dtv ist schon etwas in Planung für den Herbst.) Von dieser weisen Frau möchte ich gern noch mehr lesen.
Ein Leben in Geschichten lasse ich mit gern von Helga Schubert erzählen, die so reflektiert und nachdenklich ist. Weder die lieblose Mutter, noch zwei Diktaturen haben diese weise Frau brechen können. Wunderschön.
Vom Aufstehen, Helga Schubert, dtv Verlag, München 2021, 224 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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