Hans ist geschieden. Seine Kinder sind längst erwachsen. Seit der Trennung von seiner Frau hat er sie nicht mehr gesehen. Aber das ist schon lange her. Seine Tage sind eintönig. Zur Arbeit geht er schon lange nicht mehr. Schon die Verlängerung für seinen Hartz IV-Antrag auszufüllen, ist eine unglaubliche Anstrengung für Hans. Er ist ein behauster Obdachloser, denn eine Wohnung hat er noch. Auch wenn darin eine Menge Müll liegt und die Schmutzwäsche sich türmt. Das Rasieren hat Hans schon lange aufgegeben.
Eines Tages entschließt Hans sich, wenigstens einmal den Müll zur Tonne hinunter zu bringen. Als er den Müllcontainer öffnet, liegt obenauf eine Puppe. Eine Babypuppe, denkt Hans. Aber sie atmet ja! Mitten im Müll findet Hans ein Baby. Er tut, was jeder Mensch instinktiv tun würde: Er nimmt es hoch, weil es wimmert, nimmt es mit in seine Wohnung. Doch was nun? Wo soll er hin mit einem Baby in seiner verdreckten Wohnung? Zu wem gehört das Kind? In den Nachrichten kommt etwas von einer Mutter, die ihr Kind umgebracht haben soll. Einfach weggeworfen. Zu so einer Mutter kann man das Kind doch nicht zurückgeben, denkt Hans.
„Hans nimmt eine Flasche heraus, spült sie heiß aus, schüttet die Babymilch hinein. Das Mundstück passt drauf, aber er muss es abdichten. Er nimmt Tesafilm und umwickelt Flaschenhals und Schnuller so oft, bis er glaubt, dass es halten wird. Dann nimmt er vorsichtig das Baby und hält ihm die Flasche hin. Das Baby schreit, es reagiert nicht auf den Kontakt. „Du rechnest gar nicht mehr damit, nicht wahr, Kleiner?“, sagt Hans. „Das versteh ich gut“, sagt er, „aber jetzt ist alles anders, du wirst schon sehen.“ (S. 17)
Durch das hilflose, hungrige Baby wird etwas angerührt in Hans, der sich schon vor Jahren aufgegeben hatte. Da braucht ihn jemand. Er macht Platz, sucht Lösungen, schafft Babymilch heran. So ganz geheim halten kann er es nicht, dass er plötzlich ein Baby bei sich hat. Die Nachbarn bekommen etwas mit und freuen sich. Und plötzlich passieren jeden Tag erstaunliche Dinge in Hans‘ Leben. Aber wie lange kann das gutgehen?
Ich habe diese Geschichte sehr gern gelesen. Es ist so schön mitzuerleben, wie jemand sich allein wieder hochrappelt, der sich schon aufgegeben hatte. Und das nicht, weil ihm jemand hilft, sondern weil er jemandem helfen kann. Die Bedürfnisse eines Säuglings sind einfach zu verstehen: Essen, Schlafen, Kuscheln. Ein Baby trifft uns mit seiner Hilflosigkeit mitten ins Herz. Hans geht erfrischend anders mit der Situation um, als ich es getan hätte, mit seiner ganz eigenen Logik. Dadurch wurde mir Hans sofort sympathisch. Die Geschichte zeigt, wie leicht es ist abzurutschen und aus der Gesellschaft herauszufallen. Aber auch wie das Festhalten an den basalen Bedürfnissen eines Menschen und ein bisschen Hoffnung alles verändern kann.
Mir ging das Herz auf bei diesem schönen Buch. Es ist vielleicht nicht alles realistisch in der Geschichte, aber voller Wärme und Hoffnung ist sie, und das macht richtig Spaß.
Glückskind, Steven Uhly, Secession Verlag, Zürich 2012, 256 Seiten, 19,95 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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