Alems leiblicher Vater Emir ist ein Trinker und Kleinkrimineller, ein so unzuverlässiger Kerl, dass seine Mutter es von vornherein ausschließt, das gemeinsame Kind in seiner alleinigen Obhut lassen zu können. Er geht keiner geregelten Arbeit nach und lebt vom Taschendiebstahl, so dass die Mutter sofort wieder (ungelernt und für einen Hungerlohn) arbeiten gehen muss. Erreichbare Kindergärten gab es nicht. Wohin mit dem Kind?
„Was bist du nur für ein Mensch? Gestern hast du einen Sohn bekommen und heute liegst du besoffen im Bett. Du stinkst nach Zigarettenqualm und Schnaps, hast wahrscheinlich die ganze Nacht gesoffen und uns vergessen. Du hast mich bestohlen, du Arschloch! (…) Wir mussten den ganzen Weg vom Krankenhaus hierherlaufen. Durch den Schnee. Schämst du dich nicht? Wo warst du, verdammt nochmal?“ (S. 24)
Mutter Smilja gibt ihren sechs Wochen alten Sohn in eine deutsche Pflegefamilie. Diese hat neben sieben leiblichen Kindern, die teilweise schon aus dem Haus sind, bereits fünf Pflegekinder aus Gastarbeiterfamilien. Die leiblichen Eltern holen ihre Kinder nur an den Wochenenden zu sich nach Hause.
Die Trennung allein wäre schon schlimm genug. Doch die Wochenenden sind von Armut, Alkoholsucht und Verwahrlosung geprägt. Smilja beruhigt ihr schlechtes Gewissen mit einem Übermaß an Schokolade und Fernsehen für das Kind. Die Pflegefamilie geht zwar liebevoll mit allen Kindern um, doch sind sie geprägt vom erlebten Nationalsozialismus. Vor allem der Pflegevater Robert bringt Alem bei, dass Juden nicht zu trauen sei, Panzer das größte sind und Hitler viel Gutes getan habe, was man allerdings öffentlich leider nicht mehr sagen dürfe.
Zu allem Überfluss sucht sich Alems Mutter nach der Trennung von Emir einen neuen Freund, der ebenso nichtsnutzig und dazu ein gewalttätiger Alkoholiker ist. Die Wochenenden werden für Alem zum Alptraum. In den Ferien wird er auf Urlaub nach Jugoslawien mitgenommen, wo er die unfassbare Armut sieht, in der seine Mutter aufgewachsen ist. Sowohl die Mutter als auch die Pflegemutter können Alem nicht ausreichend vor all den schädlichen Einflüssen schützen, denen der Junge ausgesetzt ist.
Der Autor, dem es trotz dieser Umstände gelungen ist zu studieren und eine eigene Familie zu gründen, berichtet in neutralem Ton von seinem Leben und gibt einen Einblick in die Herkunftsfamilie seiner Mutter. Die Zustände in Jugoslawien und den Ausbruch des Krieges in den 1990er Jahren nimmt er am Rande mit in den Blick. Es geht aber insbesondere um die persönlichen Beziehungen und die Prägung durch die drei Vaterfiguren. Die gesellschaftlichen Zustände der 1970er und 80er Jahre erstehen auf mit ihren biederen, dunklen Holzmöbeln, eine Zeit, in der man Kinder noch Zigaretten kaufen schickte und Mütter eigentlich zuhause bleiben sollten. In dem Roman ist keine Bitterkeit zu spüren, sondern nur Überforderung und Einsamkeit. Sprachlich ist der Roman kein großer Wurf, vor allem die Teile, an die der Autor sich selbst nicht erinnert haben kann, sie aber dennoch aus der Ich-Perspektive schildert. Dennoch ist die Geschichte sehr berührend. Es ist kaum vorstellbar, welches Leid die Erwachsenen diesem Kind von Anfang an zugemutet haben, wie viele Kontaktabbrüche und Enttäuschungen. Dennoch ist Alems Geschichte wohl kein Einzelfall. Es wird vielen Gastarbeiterkindern ähnlich ergangen sein, wenn sie nicht zu den Großeltern in die Heimatländer gegeben wurden.
Der Roman erzählt die spannende Geschichte eines Kindes, das sich entgegen aller Vernachlässigung und Gewalt entwickelt hat, allen schlechten Vorbildern zum Trotz. Ich musste das Buch in einem Zug durchlesen.
Das achte Kind, Alem Grabovac, Verlag Hanser blau, München 2021, 256 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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