Lise ist eine bekannte Kinderbuchautorin und hat seit zwei Jahren nichts mehr zu Papier bringen können. Sie lebt mit ihrem Mann Gert, zwei Söhnen und einer Tochter sowie dem Hausmädchen Gitte zusammen. In der Ehe steht es nicht zum Besten, Gert betrügt sie. Das alles ist Lise gleichgültig – wie der Rest des Lebens auch. Sie weiß, dass Gitte sowohl mit Gert als auch mit dem älteren Sohn Mogens schläft. Sie erträgt es, dass Gitte ihr ungebetene Ratschläge über ihr Eheleben und die Kindererziehung gibt. Aber Lise geht es von Tag zu Tag schlechter. Sie meint, Gert und Gitte wollten sie aus dem Weg räumen. Nach einem Selbstmordversuch wird sie eingewiesen. Und hier beginnt die Geschichte eigentlich erst. Lise hört Stimmen, hat Halluzinationen und fühlt ich verfolgt. Fast alle Menschen um sie herum scheinen in ein Mordkomplott verwickelt zu sein. In Pflegern und Schwestern meint sie, Gert und Gitte zu erkennen. Dabei beziehen sich ihre Wahnideen zumeist auf Gesichter. Ihr eigenes Gesicht scheint zu zerbrechen, hinter Gittern und Rohren sieht sie bekannte Gesichter, die bedrohlich zu ihr sprechen, fremde Gesichter erscheinen unnatürlich klein oder verzerrt.
„Ob es ihre Zeit durchhalten würde, dieses Gesicht, das Spuren so vieler Dinge trug, von denen die Welt nichts wissen durfte? Kehrte es sich feindlich gegen sie, wenn sie es nicht beobachtete? Und was befände sich darunter, wenn es eines Tages auseinanderfiele?“ (S. 18)
Zum einen beschreibt Tove Ditlevsen die traurige Realität der Psychiatrie in den 1960er Jahren. Patientinnen sollen hauptsächlich ruhiggestellt werden und tun, was man ihnen sagt. Sie werden wie Kinder behandelt, am Bett festgegurtet und in großen Gruppen verwahrt. Zum anderen beschreibt die Autorin schmerzlich dicht das innere Erleben einer Psychose. Als wäre es das eigene Hirn, das Kapriolen schlägt, geht die Leserin mit Lise durch die Hölle. Realität, Traum und Wahn lassen sich nicht mehr auseinanderhalten. Lise befindet sich ständig in Todesangst, weil der ihr gereichte Saft mit Sicherheit vergiftet ist und man sie mit der angeblichen Beruhigungsspritze töten will. Teuflischerweise wird der Wahn gespeist aus Lises Kindheitswunden, alten emotionalen Verletzungen und den realen Familienproblemen der Gegenwart, so dass ständig ihre empfindlichsten Stellen getroffen werden. Jeder Gedanke, jedes Wort wird abgehört und durch Mikrofone in Lises Kissen bösartig kommentiert. Sobald sie die Augen schließt, tanzen Wahnbilder vor ihr, denen sie nicht entrinnen kann. Es kann niemanden wundern, dass manchen Patienten der Suizid als einziger Ausweg aus diesem Inferno erscheint.
Mich beeindruckt einmal mehr Tove Ditlevsens Sprache, die Wucht ihrer Bilder für Emotionen, mit denen sie den Leser so dicht in ihr Empfinden hineinzieht. Die Autorin hat ihre eigene Psychose durch das Schreiben zu verarbeiten versucht. Ich bewundere, wie sie die Distanz zum Erlebten erlangt hat, um so darüber schreiben zu können, dass die Leserin gleichzeitig sowohl die innere Hölle als auch das Erleben der Außenwelt mitfühlen kann.
Tove Ditlevsen macht die Psychose erlebbar, als habe man selbst eine und schafft gleichzeitig eine Außensicht auf die Psychiatrie durch ihre ungewöhnlichen Sprachbilder. Ein beeindruckendes Werk, das seinen Lesern einiges abverlangt.
Gesichter, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Else Kjaer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, 155 Seiten (antiquarisch)
(Die Rechte an der Covergestaltung liegen beim Verlag.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen