Tove Ditlevsen wurde im Dezember 1917 in Kopenhagen geboren. Sie wächst mit ihrem älteren Bruder bei ihren Eltern im Arbeitermilieu in Armut auf. Es ist aber weniger die Armut, die ihr Leben erschwert, sondern das Gefühl ungeliebt und anders zu sein als alle anderen. Der Bruder ist der Augenstern des Vaters, sie ist ja nur ein Mädchen. Der Vater ist wortkarg, die Mutter kaltherzig und launisch. Tove bringt sich selbst vor dem Schuleintritt Lesen und Schreiben bei. Worte erschaffen eine eigene Welt in ihr, die sie vor allen anderen verbergen muss. An Lesestoff zu kommen ist schwer, die Mutter hält nichts davon. Aber der Vater liest. Dennoch darf auch er nicht wissen, dass Gedichte in Tove wachsen wie Girlanden. Sie schreibt die Gedichte auf und muss sie vor Spott verbergen. Tove träumt davon, eine berühmte Dichterin zu werden. Aber der Vater erklärt ihr, dass Mädchen nicht Dichter werden könnten.
„ …, und in meinem Inneren krochen lange, merkwürdige Wörter hervor und legten sich wie eine Schutzhülle über meine Seele. Ein Lied, ein Gedicht, etwas Linderndes, Rhythmisches und unendlich Melancholisches, das jedoch nie so leidvoll und traurig war, wie es der Rest des Tages unweigerlich sein würde. Wenn mich diese hellen Wogen von Wörtern durchströmten, wusste ich, dass meine Mutter mir nichts mehr anhaben konnte, denn in diesem Moment hörte sie auf, für mich von Bedeutung zu sein.“ (S. 8)
Ganz besonders und poetisch ist dieses Buch geschrieben. Die äußere Welt ist kalt und verletzend, aber in Toves Seele existiert eine ganz eigene Zauberwelt voller Schönheit. Es ist schier unglaublich, wie ein Kind angesichts der schlimmen Demütigungen und Zurückweisungen eine solche Welt in sich erschaffen kann. Die Wirklichkeit interessiert sie nicht, der Welt draußen zeigt sie nur eine Fassade. Ihre Innenwelt ist das wahre Leben, obwohl es ausgedacht ist.
Neben der berührenden Kindheitsgeschichte legt Ditlevsen Zeugnis ab vom rauen Großstadtleben während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre. Der Alkoholismus ist weit verbreitet, Gewalt alltäglich, die Sozialdemokraten kämpfen für die Einführung des 8-Stundentags. Oft reicht das Geld nur für Tee und altes Gebäck. Diphterie geht um. Aus Toves Sicht sehen wir ein Frauenleben, das gesellschaftlich nichts gilt, das Stigma unehelicher Mutterschaft und den verwehrten Zugang zu Bildung.
Das Buch ist kurz, tief und direkt. Es enthält kein Wort zu viel. Es endet mit Toves Konfirmation. Die Autorin berichtet sehr dicht und unmittelbar von ihrer Kindheit. Ich hatte das Gefühl dabei zu sein. Besonders hervorzuheben ist auch die außerordentlich gelungene Übersetzung von Ursel Allenstein. Eine so besondere Sprache mit ihren treffenden Bildern und Gedichten zu übersetzen, ist eine große Kunst. Auch die Prosa schwingt wie ein Gedicht. Wunderschön! Eine echte Entdeckung.
Ein außergewöhnliches Buch einer beeindruckenden Frau, das an Sprachschönheit seinesgleichen sucht. Ich kann die folgenden Bände kaum erwarten! Könnte bitte jemand das Gesamtwerk Ditlevsens auf Deutsch herausbringen? Es ist dringend!
Kindheit, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Ursel Allenstein, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 124 Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
Zusatz-Info:
Am 15. Februar 2021 erscheinen im Aufbau Verlag die beiden weiteren Bände der Kopenhagen-Trilogie „Jugend“ und „Abhängigkeit“.