Samstag, 23. Januar 2021

Kindheit, Tove Ditlevsen

Was für ein phänomenales Buch! Die dänische Lyrikerin und Schriftstellerin Tove Ditlevsen (1917-1976), deren Werke in Dänemark zur Schullektüre gehören, hat dieses autobiografische Buch bereits 1967 veröffentlicht. Jetzt liegt es erstmals in deutscher Übersetzung vor als Teil der sog. Kopenhagen-Trilogie. Was für ein Geschenk!

Tove Ditlevsen wurde im Dezember 1917 in Kopenhagen geboren. Sie wächst mit ihrem älteren Bruder bei ihren Eltern im Arbeitermilieu in Armut auf. Es ist aber weniger die Armut, die ihr Leben erschwert, sondern das Gefühl ungeliebt und anders zu sein als alle anderen. Der Bruder ist der Augenstern des Vaters, sie ist ja nur ein Mädchen. Der Vater ist wortkarg, die Mutter kaltherzig und launisch. Tove bringt sich selbst vor dem Schuleintritt Lesen und Schreiben bei. Worte erschaffen eine eigene Welt in ihr, die sie vor allen anderen verbergen muss. An Lesestoff zu kommen ist schwer, die Mutter hält nichts davon. Aber der Vater liest. Dennoch darf auch er nicht wissen, dass Gedichte in Tove wachsen wie Girlanden. Sie schreibt die Gedichte auf und muss sie vor Spott verbergen. Tove träumt davon, eine berühmte Dichterin zu werden. Aber der Vater erklärt ihr, dass Mädchen nicht Dichter werden könnten.

„ …, und in meinem Inneren krochen lange, merkwürdige Wörter hervor und legten sich wie eine Schutzhülle über meine Seele. Ein Lied, ein Gedicht, etwas Linderndes, Rhythmisches und unendlich Melancholisches, das jedoch nie so leidvoll und traurig war, wie es der Rest des Tages unweigerlich sein würde. Wenn mich diese hellen Wogen von Wörtern durchströmten, wusste ich, dass meine Mutter mir nichts mehr anhaben konnte, denn in diesem Moment hörte sie auf, für mich von Bedeutung zu sein.“ (S. 8)

Ganz besonders und poetisch ist dieses Buch geschrieben. Die äußere Welt ist kalt und verletzend, aber in Toves Seele existiert eine ganz eigene Zauberwelt voller Schönheit. Es ist schier unglaublich, wie ein Kind angesichts der schlimmen Demütigungen und Zurückweisungen eine solche Welt in sich erschaffen kann. Die Wirklichkeit interessiert sie nicht, der Welt draußen zeigt sie nur eine Fassade. Ihre Innenwelt ist das wahre Leben, obwohl es ausgedacht ist.

Neben der berührenden Kindheitsgeschichte legt Ditlevsen Zeugnis ab vom rauen Großstadtleben während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre. Der Alkoholismus ist weit verbreitet, Gewalt alltäglich, die Sozialdemokraten kämpfen für die Einführung des 8-Stundentags. Oft reicht das Geld nur für Tee und altes Gebäck. Diphterie geht um. Aus Toves Sicht sehen wir ein Frauenleben, das gesellschaftlich nichts gilt, das Stigma unehelicher Mutterschaft und den verwehrten Zugang zu Bildung.

Das Buch ist kurz, tief und direkt. Es enthält kein Wort zu viel. Es endet mit Toves Konfirmation. Die Autorin berichtet sehr dicht und unmittelbar von ihrer Kindheit. Ich hatte das Gefühl dabei zu sein. Besonders hervorzuheben ist auch die außerordentlich gelungene Übersetzung von Ursel Allenstein. Eine so besondere Sprache mit ihren treffenden Bildern und Gedichten zu übersetzen, ist eine große Kunst. Auch die Prosa schwingt wie ein Gedicht. Wunderschön! Eine echte Entdeckung.

Ein außergewöhnliches Buch einer beeindruckenden Frau, das an Sprachschönheit seinesgleichen sucht. Ich kann die folgenden Bände kaum erwarten! Könnte bitte jemand das Gesamtwerk Ditlevsens auf Deutsch herausbringen? Es ist dringend!

Kindheit, Tove Ditlevsen, aus dem Dänischen übersetzt von Ursel Allenstein, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 124 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Zusatz-Info:

Am 15. Februar 2021 erscheinen im Aufbau Verlag die beiden weiteren Bände der Kopenhagen-Trilogie „Jugend“ und „Abhängigkeit“.

Freitag, 22. Januar 2021

Mit Blick aufs Meer, Elizabeth Strout

Elizabeth Strout stammt aus Portland in Maine, USA. In der Nähe ihres Heimatortes siedelt sie die fiktive Kleinstadt Crosby an, in der dieses Buch spielt, für das sie im Jahr 2009 den Pulitzerpreis gewann. Das Buch besteht aus einzelnen Episoden, in denen jeweils eine andere Person aus dem Ort im Fokus steht. Im Englischen Original lautet er Buchtitel „Olive Kitteridge“, da die Figur dieses Namens den roten Faden durch alle Episoden bildet.

Wir begegnen alten und jungen Menschen des Ortes, Ehepaaren und Familien, eben einem Querschnitt der Kleinstadtbevölkerung. Ihre Geschichten sind auf den ersten Blick wenig spektakulär. Da gibt es den Apotheker, der seit Jahrzehnten den Menschen ihre Pillen verkauft und sich seiner jungen Angestellten annimmt, die etwas naiv im Leben steht. Es gibt ein junges magersüchtiges Mädchen, das von der Liebe enttäuscht ist, ein Ehepaar, das sich verkriecht, nachdem der Sohn im Gefängnis gelandet ist oder die alleinstehende Frau in mittleren Jahren, die seit Ewigkeiten in der örtlichen Kneipe Klavier spielt ohne je ein eigenes Klavier besessen zu haben. Eine Hochzeit platzt, erwachsene Kinder ziehen weg, jemand wird alt und krank.

„Ich habe oft an dich gedacht, Kevin Coulson“, sagte sie. „Das kannst du mir glauben.“

Er schloss die Augen. Er hörte, wie sie ihr Gewicht verlagerte, wie die Steinchen auf der Gummimatte knirschten, als ihr Fuß darüberscharrte. Er wollte schon sagen: Ich will nicht, dass Sie an mich denken, als sie fortfuhr: „Ich habe deine Mutter immer gemocht.“ (…)

Er fragte sich, wie lange das wohl noch gehen sollte. Trotzdem, es bedeutete ihm etwas, dass sie seine Mutter gekannt hatte. In New York hatte sie keiner gekannt.

„Ich weiß nicht, ob du das wusstest, aber bei meinem Vater war es das Gleiche.“

„Was?“ Er runzelte die Stirn, fuhr sich mit dem Zeigefinger kurz zwischen den Lippen hindurch.

„Selbstmord.“ (Flut, S. 68/69)

In der Gesamtschau der Geschichten wird deutlich, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Das Leben ist für niemanden einfach. In der Kleinstadt kennt jeder jeden, zumindest von weitem, so dass die Geschichten mancher Personen miteinander verknüpft sind, obwohl jede der Episoden für sich allein und fast in beliebiger Reihenfolge gelesen werden könnte. Das Besondere an der Erzählweise ist, dass es keine Geschichte über die Titelgeberin Olive Kitteridge selbst gibt. Die pensionierte Mathematiklehrerein von Anfang Siebzig taucht in jeder Episode auf, so dass wir nach und nach immer mehr über ihr Leben erfahren, auch wenn sie nie im Mittelpunkt steht. Wir erleben sie im Kontrast zu oder in Interaktion mit anderen Personen, erkennen erst im Verlauf der Geschichte Muster in ihren Verhaltensweisen und können zum Ende hin einordnen, was für ein Mensch sie wohl ist.

Der Roman zeichnet den facettenreichen Charakter der pensionierten Lehrerin nach und ergibt gleichzeitig ein Panorama des engmaschigen Geflechts all der verschiedenen Menschen, die in der Kleinstadt leben. So entsteht bei der Leserin ein Gefühl für die Zeit, die Konventionen und die Stimmung des Ortes. Man erlebt die Kleinbürgerlichkeit, den Tratsch, aber auch den Zusammenhalt dieser Gemeinschaft.

Ein lesenswertes Buch mit raffinierter, mosaikartiger Erzählweise, dessen alltägliche Dramen sich eher leise abspielen und uns daran erinnern, was sich bei jedem unserer Nachbarn genau jetzt auch ereignen könnte. Ob wir hinschauen wollen, entscheiden wir selbst.

Mit Blick aufs Meer, Elizabeth Strout, aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Roth, btb Verlag, München 2014, 480 Seiten (Diese Geschenkausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich. Es gibt eine Taschenbuchausgabe von btb für 10,00 EUR.)

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Montag, 18. Januar 2021

Die Gespenster von Demmin, Verena Kessler

Larissa, die darauf besteht Larry genannt zu werden, lebt in Demmin. In diesem Kaff ist absolut nichts los. Deshalb hat Larry einen Plan: Sie will Kriegsreporterin werden, durch die Welt reisen und von überall berichten. Darauf bereitet sie sich vor. Sie sieht sich Dokumentationen über Kriegsreporterinnen an und weiß über Foltermethoden Bescheid. Also übt sie, lange mit dem Kopf nach unten zu hängen ohne ohnmächtig zu werden oder ihre Hand so lange wie möglich in eiskaltes Wasser zu tauchen. Zimperlich ist sie wirklich nicht. Von ihrer Mutter ist Larry genervt, vor allem aber von deren neuem Freund, der sich im Haus breitmacht. Ihren Vater, von dem die Mutter geschieden ist, sieht Larry kaum.

Im Haus gegenüber wohnt die alte Frau Dohlberg. Sie hat schon als Kind in Demmin gelebt und den Krieg noch mitbekommen . Sie war dabei, als sich bei Kriegsende in Demmin die Menschen in Massen umgebracht haben, als der Einmarsch der Russen bevorstand. Darüber redet niemand mehr. Nur noch das Massengrab auf dem Demminer Friedhof erinnert an diese Zeit. Und Frau Dohlberg erinnert sich. Besonders als ihr Umzug in ein Seniorenheim bevorsteht und sie ihr Haus leerräumen soll, kommen die Erinnerungen mit Macht zurück.

Während Larry die Gefahr sucht, versucht sie gleichzeitig der Sprachlosigkeit in ihrer Familie zu entfliehen. Es gibt eine Leerstelle in der Familie, über die ebenso wenig gesprochen wird, wie über die vielen Frauen, Männer und Kinder, die den Mai 1945 nicht überlebt haben. Erst als Larry sich allen Gespenstern der Vergangenheit stellt, gewinnt sie eine neue Perspektive.

„Das Eis brennt an den Handflächen, meine Jeans wir an den Knien feucht. Hab mich dafür entschieden, gleich zu robben. Nur zur Sicherheit. Wahrscheinlich sehe ich wie ein betrunkener Eisbär aus, aber egal. Hier geht´s um Leben und Tod. Langsam taste ich mich vorwärts. Der Schwan flattert jetzt immer aufgeregter und faucht ab und zu leise, aber ich nehme es ihm nicht übel, ich weiß, dass er bloß Angst hat. (…) Mein ganzer Körper bebt, und schließlich höre ich das Knistern. (…) Es knackt. Einmal. Noch einmal. Eine Sekunde lang ist alles still, selbst der Schwan gibt keinen Laut von sich. Und dann breche ich ein.“ (S. 69/70)

Der Roman erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Larry und Frau Dohlberg. Das individuelle und das kollektive Unglück haben gemeinsam, dass Traumata bleiben, auch oder gerade wenn sie totgeschwiegen werden. Sie vergehen nicht einfach mit der Zeit. Sie beherrschen die Lebenden über Jahre. Larry gibt sich tough, ist aber feinfühliger als sie zugeben mag. Sie durchlebt eine Zeit, in der sich Todessehnsucht von Abenteuerlust schwer unterscheiden lässt und die Erwachsenen keinen Halt mehr geben können. Verena Kesslers Debütroman ist eine berührende Coming of age-Geschichte mit schwerwiegendem historischem Hintergrund, die mit ungeheurer Leichtigkeit erzählt wird. Larrys schnodderige Art ist herzerfrischend. Damit kontrastiert die Geschichte der alten Dame, die niemand mehr hören will. Auf andere Art ist Frau Dohlberg genauso haltlos und unverstanden wie Larry. Das Buch ist ein Appell nachzufragen und zuzuhören.

Ein Roman, der zeigt, dass Junge und Alte dem Tod gleich nah sein können, der sich trotz des ernsten Themas eher leicht liest. Eine gelungene Gratwanderung.

Die Gespenster von Demmin, Verena Kessler, Verlag Hanser Berlin, München 2020, 240 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Freitag, 15. Januar 2021

The Night Bookmobile, Audrey Niffenegger

Audrey Niffenegger hat eine sehr atmosphärische Graphic Novel geschrieben und illustriert. Auf schwarzen Hochglanzseiten leuchtet uns weißer Text entgegen, schwarz sind die Bildpanele eingerahmt. Das ist kein Zufall, denn die Geschichte spielt nachts.

Als Alexandra morgens um 4 Uhr einen Spaziergang durch menschenleere Straßen macht, sieht sie ein Wohnmobil mit geöffneter Tür. Musik tönt heraus, ein älterer Mann sitzt darin und liest die Zeitung. Magisch angezogen schaut sie hinein. Der Herr ist der Bibliothekar des Night Bookmobile und bittet sie herein. Alexandra stöbert durch lange Bücherregale und entdeckt, dass sie all die dort aufgereihten Bücher kennt - einschließlich ihres eigenen Tagebuchs!

„This collection consists of all the books you`ve ever read. We also have all the periodicals and ephemera – cereal boxes and such – which are in section C, to your right. (…)

You see, the Library, in its entirety, comprises all the printed matter ever read by anyone alive at this moment. So we are quite ready for any patron.“ (S. 11)

Die Bibliothek ist nur von der Abend- bis zur Morgendämmerung geöffnet, keine Ausleihe. Alexandra sucht des nachts wieder und wieder nach der mobilen Buchsammlung – erfolglos. Diese Sammlung stellt ein Portrait ihrer Lesepersönlichkeit dar. Mit den Buchtiteln kommen Erinnerungen zurück an all ihre vergangenen Lesestunden. Eine Sehnsucht erwacht in ihr. Könnte sie nicht selbst Bibliothekarin werden, in einer Bibliothek wie dieser? Aber wie soll das gehen, wenn das Büchermobil nicht mehr zu finden ist?

Mir gefallen die freundlichen Bilder, die an ein Kinderbuch erinnern. Das Querformat eignet sich hervorragend, um lange Buchreihen darzustellen. Die Geschichte quillt über vor Buchliebe, die eingefleischte Leserinnen nur zu gut verstehen, die von ihrer Umwelt manchmal belächelt werden. Es ist herzerwärmend sich vorzustellen, dass alles, was wir je gelesen haben, in einer besonderen Bibliothek aufbewahrt wird.

Sag mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist, sagt diese wunderschöne Graphic Novel. Buchliebhaber, taucht einfach ein und fühlt euch verstanden!

The Night Bookmobile, Audrey Niffenegger, Verlag Abrams Comicarts, New York 2010, 40 Seiten

(Die Rechte am Coverbild liegen beim Verlag.)

Zusatz-Info:

Das Buch ist auf Deutsch unter dem Titel „Die Nachtbibliothek“ im Jahr 2012 im Graf Verlag erschienen (Übersetzung von Brigitte Jakobeit), scheint aber nur noch antiquarisch erhältlich zu sein.

 

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...