In der Titelgeschichte „Der Schrank“ begegnen wir einem Paar, das eine neue Wohnung mit einem alten, abgegriffenen Schrank bezieht. Die Umgebung ist schmutzig und trostlos, so dass vor allem die Frau bald mehr Zeit im Schrank als außerhalb verbringt.
In „Deus Ex“ geht es um virtuelle Welten. Viele von uns lassen sich von immer realistischer animierten Computerspielen einsaugen, in denen man eigene Welten erschaffen kann. Manche dieser Welten folgen den gleichen Regeln wie die reale Welt und ersetzen diese für den Spieler. In der Geschichte jedoch kann der Spieler die Regeln dieser Welt verändern, die Zeit beschleunigen, das Perfekte schaffen und anderes mehr, so dass er sich dem Schöpfer – Gott selbst – annähern kann.
Besonders gefallen hat mir „Zimmernummern“. Ein Zimmermädchen in einem Hotel wird in ihrer Uniform fast selbst zum Gegenstand, wenn sie durch die verlassenen Zimmer zieht, um diese von den Hinterlassenschaften der Gäste zu reinigen. Dabei kann sie einiges über die ihr unbekannten Menschen erfahren, deren Seelenzustand sie sogar riechen kann.
„Die verbliebenen Reste der Persönlichkeit des abgereisten Gastes muss man mit der eigenen Unpersönlichkeit bekämpfen. Das ist der Sinn der Verwandlung. Die Reste des Spiegelbilds jenes Gesichts muss ich nicht nur mit dem Lappen vom Spiegel wischen, ich muss den Spiegel auch mit meiner rosaweißen Gesichtslosigkeit füllen. Jenen Geruch, den Hast und Fahrigkeit hinterlassen haben, muss ich durch meine Geruchlosigkeit zerstreuen.“ (aus „Zimmernummern“, S. 28)
Wir lernen ferner die seltsame Verbindung zwischen der Geburt eines vaterlosen Kindes und „Sauermehlsuppe“, einer polnischen Spezialität, kennen. Wir sehen „Peter Dieter“ bei der Rückkehr in die alte Heimat seiner Kindheit zu und erleben, wie „Ergo Sum“ langsam wahnsinnig wird, als ihn Erinnerungen einholen.
Romantisch fand ich die Geschichte „Amos“, in der eine Frau im Traum die Stimme eines Mannes in ihrem Ohr vernimmt. Sie ist überzeugt davon, dass es diesen Mann gibt, dass er genau sie meint und sie ihn unbedingt in der realen Welt finden muss. Vor allem in dieser Erzählung wird die sehr eigene Erzählstimme der Autorin deutlich:
„Hinter ihr in der Küche klirrte der Amos aus ihrem Traum mit den Gläsern, ein lebendiger, warmer, magerer Mann mit geröteten Augen, jemand, der alles weiß und alles versteht, der in die Träume der Menschen geht, dort Liebe und Unruhe sät, jemand, der die Welt handhabt, als wäre sie ein Vorhang, hinter dem sich eine andere Wahrheit verbirgt, eine ungreifbare Wahrheit, die sich nicht auf Dinge, Ereignisse oder irgendetwas Beständiges stützt.“ (S. 93/94)
Was für ein Satz! Man muss sich einlassen auf diese fremden Welten, auf diese poetische, bedeutungsschwangere Sprache. Manchmal muss man einen Absatz zweimal lesen, um ihn voll zu erfassen. Es schwingt ebenso viel Grausamkeit wie Liebe und Sehnsucht in den Geschichten, eben das ganze menschliche Spektrum. Insgesamt ist die Tönung der Geschichte aber eher melancholisch. Die Wirklichkeit hält mit den Träumen nicht Schritt, deshalb benötigt der Mensch die inneren Parallelwelten. Dazu passt besonders gut das Coverbild, das – je nach Betrachtungsweise – sowohl eine Tür nach innen als auch eine Tür nach außen darstellt. Eine optische Täuschung, die unsere Durchlässigkeit zwischen der inneren und äußeren Welt gut verkörpert.
Olga Tokarczuk komponiert außergewöhnliche Erzählungen, die als kleine Geschichten daherkommen und bei genauerem Hinsehen ein Universum an Bedeutung bergen. Beeindruckend.
Der Schrank, Olga Tokarczuk, aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky, Gatsby im Kampa Verlag, Zürich 2020, 144 Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen