Hast du einen Löwen in dir, ein reißendes Raubtier? Was könnte dieses Raubtier in dir wecken? Diese Frage stellt die 1982 geborene israelische Autorin.
Etan Grien ist Neurochirurg, verheiratet, Vater zweier kleiner Jungen. Er arbeitet in einem israelischen Krankenhaus und ist ein rechtschaffener Mensch, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen. Doch das Fehlverhalten weniger Minuten sorgt dafür, dass in seinem Leben nichts mehr ist wie zuvor. Er überfährt in der Dunkelheit einen Menschen. Ihm ist sofort klar, dass der Mann nicht mehr zu retten ist. Etan lässt ihn liegen und fährt weiter, sagt niemandem ein Wort. Kann das Konsequenzen haben? Der Mann ist ersichtlich ein Infiltrant, ein illegaler eritreeischer Einwanderer, von denen es so viele gibt in Israel. Zu Etans Erschrecken gibt es eine Zeugin des Unfalls. Diese macht ihm am Tag darauf ein Angebot. Auch davon berichtet Etan niemandem, nicht einmal seiner Frau Liat. Dabei fürchtet sich Etan davor, dass Liat etwas merken könnte. Schließlich ist sie Kriminalpolizeibeamtin.
Natürlich hat Etan Gewissensbisse, einerseits wegen des toten Mannes, andererseits weil er seine Frau belügt. Aber hätte seine geliebte Liat wirklich Verständnis für das Geschehene? Was, wenn nicht? Etan erfährt einiges über die schlimmen Lebensbedingungen der Eritreer und ihre Flucht. Sind diese nicht zu bedauern? Aber ist jemand automatisch ein guter, bedauernswerter Mensch, weil er ein Flüchtling ist? Etan merkt bald, dass die Dinge viel komplizierter sind. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, moralisch und unmoralisch verwischen. Der Leser muss sich fragen, wie er selbst in einer solchen Situation gehandelt hätte.
„Aber die Angst war bei ihm ein ungebetener Gast, keinesfalls ein ständiger Bewohner. Seine Augen erzählten ihr das. Die Art, wie er seinen Mitmenschen direkt ins Gesicht sah. Furchtsame Menschen sahen anderen nicht direkt ins Gesicht. Damit sie mit ihrem Blick nicht etwa Unwillen oder Tadel auslösten. Furchtsame Menschen senkten die Augen, blinzelten, wagten nicht, mit ihrem Blick ein Stückchen vom Gesicht eines anderen Menschen einzufordern.“ (S. 161)
Die Geschichte könnte ebenso gut in Deutschland spielen. Auch bei uns gibt es viele illegale Einwanderer einerseits und weiße Privilegien andererseits. Migranten schlägt oft wenig Verständnis entgegen, obwohl gerade Deutschland die Schrecken von Flucht und Vertreibung selbst nach dem letzten Krieg erlebt hat. Macht es einen Unterschied, ob der Getötete ein Einheimischer oder ein illegaler Flüchtling ist? Der Roman macht deutlich, dass die schnellen Antworten, die wir versucht sind zu geben, nur scheinbar zwingend sind. Keine/r von uns ist nur gut oder nur böse. Es hängt von den Umständen ab, ob und wann wir zum reißenden Raubtier werden, das nur noch um sein eigenes Überleben kämpft.
Die Autorin, die selbst Psychologie studiert hat, lässt uns gekonnt in die Gedanken aller handelnden Personen schauen. Nach einem gelungenen ersten Teil der Geschichte gerät diese Innenschau in der Mitte des Romans für meinen Geschmack deutlich zu lang, ohne die Handlung voran zu bringen. Das Ende ist dann umso verblüffender. Der Roman hat mir Spaß gemacht, hat sich streckenweise aber zu sehr gezogen. Dennoch bin ich neugierig auf ein weiteres Buch der Autorin.
Ein gekonnter Beitrag zur weltweiten Flüchtlingsdebatte, der deutlich macht, dass wir uns nicht zu sicher sein sollten, immer das moralisch Richtige zu tun.
Löwen wecken, Ayelet Gundar-Goshen, aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama, Kein & Aber Verlag, Zürich - Berlin 2015/2016, 432 Seiten, 14,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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