Mit den Filmen der Augsburger Puppenkiste bin ich groß geworden. Jim Knopf war mein großer Liebling, aber auch Urmel, Die Katze mit Hut und Die Dschungeldetektive fand ich großartig. Allerdings hatte ich nicht vermutet, dass die Entstehung der Puppenkiste so eng mit dem Krieg zusammenhängt. Der Roman erzählt zwei Geschichten abwechselnd. Die eine ist rot, die andere blau gedruckt, so dass das Buch mich stark an meine alte Ausgabe von Michael Endes „Die Unendliche Geschichte“ erinnert. Das ist sicher kein Zufall.
Ein namenloses 12jähriges Mädchen gelangt auf den Dachboden der Augsburger Puppenkiste und begegnet dort den Marionetten, die plötzlich zum Leben erwachen. Ferner trifft sie dort auf Hatü, die bereits verstorbene Hannelore Marschall-Oehmichen, welche die meisten der bekannten Marionetten selbst geschnitzt und gespielt hat. Durch Hatü erfährt das Mädchen von den Anfängen des Marionettentheaters, aber auch von den Nachwehen dieser Anfänge, die mit der Schuld des 2. Weltkriegs verknüpft sind.
Blau gedruckt sind sodann die Rückblenden auf Hatüs Kindheit, den Krieg und Hatüs Vater Walter Oehmichen. Hannelores Eltern waren beide Schauspieler. So verwundert es nicht, dass der Vater schon im Krieg mit einem Brett im Türrahmen für einige Leute (nicht nur für Kinder!) ein wenig Puppentheater gespielt hat, um die dunklen Zeiten heller zu machen. Hatüs Mutter Rose fertigte die Kostüme. Der Roman berichtet, warum Walter Oehmichen nach dem Krieg gerade das Marionettentheater für eine so notwendige Form des Erzählens hielt. Hatü war von Anfang an als Puppenspielerin dabei und war maßgeblich daran beteiligt, dass die Puppenkiste irgendwann nicht nur Märchen, sondern auch modernere Inhalte spielte, etwa „Der Kleine Prinz“.
„Das ist der Herzfaden“, sagt er und zieht mit dem Zeigefinger eine unsichtbare Linie in die Luft von dem armen Hänsel zu ihnen.
„Der Herzfaden?“ fragt Hatü.
„Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“ (S. 64)
Dieser Herzfaden hat mich bereits auf den ersten Seiten in diesen zauberhaften Roman hineingezogen, der bevölkert ist von den liebevoll gestalteten Figuren. Urmel und Kalle Wirsch reden ein Wort mit in der Geschichte, der Kasperl lässt sich schon gar nicht den Mund verbieten und alle paar Seiten springt eine aus wenigen Linien sparsam gestaltete Zeichnung hervor, die aber sofort die prägnanten „Gesichtszüge“ von Prinzessin Li-Si oder die Umrisse der Lokomotive Emma erkennen lassen. So ist der teilweise ernste Stoff gut eingebettet. Ganz nebenbei steuert der Roman auch eine mir ganz neue Deutung zur Geschichte von Jim Knopf bei. Dass es sich dabei um einen Gegenentwurf zum Faschismus und zum Töten der Bösen handelt, war mir nie aufgefallen. Meine Kindheitsträume wurden dabei nicht entzaubert, sondern angereichert.
Es ist eine Kunst, eine Kriegs- und Nachkriegsgeschichte so zauberhaft zu erzählen, dass es sich dennoch um ein Wohlfühlbuch handelt, ohne zu trivialisieren. Ich kann dieses Buch nur von Herzen empfehlen!
Herzfaden, Thomas Hettche, Zeichnungen von Matthias Beckmann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 288 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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