Die Geschichte wird erzählt vom Sebi, einem zu Beginn etwa 12jährigen Jungen, der eigentlich Eusebius heißt. Er ist der jüngste von drei Brüdern, die mit ihrer Mutter im Jahr 1313 in einem Dorf in der Schweizer Talschaft Schwyz leben. Seine kindlich einfache Ausdrucksweise ist bestechend, zumal der Sebi ausgesprochen klug ist. Er beschreibt die Dinge unbeschönigt, hinterfragt sie und entlarvt manchen Erwachsenen, Kindermund eben. Den Sebi habe ich gleich ins Herz geschlossen. Er hat das Herz am rechten Fleck.
„Ich will nicht, dass der Geni stirbt, ich will es einfach nicht. Man muss doch etwas machen können, und wenn es ein Wunder braucht, dann muss eben ein Wunder passieren, wozu hat man sonst eine Religion?“ (S. 39/40)
Die Titelfigur, der „Halbbart“, ist ein Fremder, der sich eines Tages im Dorf niederlässt. Komplizierte Namen sind die Sache der Dorfbewohner nicht, und so nennt man ihn nach seinem Aussehen. Sein Bart ist nur zur Hälfte zu sehen, wie der Rest seines Gesichts auch, denn die andere Hälfte ist schwarz und verkrustet von Brandnarben. Wo er herkommt und was ihm geschehen ist, weiß niemand. Wir erfahren es bröckchenweise im Laufe des Romans. Der Halbbart ist bescheiden, lebt zurückgezogen, kennt seinen Platz als Außenseiter im Dorf. Aber Sebi findet ihn sogleich interessant und bemerkt, dass er ein kluger Mann sein muss, der womöglich sogar lesen kann, obwohl er gar kein Mönch ist. Von ihm lernt Sebi ein kompliziertes Spiel namens Schachzabel, dessen Figuren (darunter Elefanten!) der Halbbart selbst hergestellt hat. Darüber hinaus kann der Halbbart Leute gesund machen. Das ist sehr praktisch, da es im Dorf keinen Arzt gibt.
Überhaupt erfahren wir in der Geschichte, dass das Mittelalter nichts für schwache Nerven ist. Wenn man des nachts auf einem Strohsack schlafen darf, ist das schon eine Wohltat. Dauernd frieren und hungern die Leute. Es gibt schlimme Unfälle, Schlachten und Hinrichtungen nebst Folter. Die Ungleichheit in der Gesellschaft und die überragende Bedeutung von Kirche und Aberglauben werden beschrieben, all dies aufrecht erhalten durch mangelnde Bildung und fehlende Sozialsysteme. Die Machtpolitik der Fürstenhäuser mit ihren Söldnern bekommen die Menschen ebenfalls zu spüren.
Der Roman besteht aus vielen kleinen Geschichten über einen Zeitraum von mehreren Jahren, durch die das Dorfleben geschildert wird. Ein roter Faden ist die Geschichte des Halbbarts und dessen Herkunft. Zusammengehalten wird jedoch alles durch Sebis eigenes Erwachsenwerden. Er ist nicht so klug wie sein Bruder Geni und nicht so rabiat und streitsüchtig wie sein Bruder Poli, der Soldat werden will. Selbst für die Feldarbeit ist Sebi nicht kräftig genug. So muss er für sich einen anderen Platz im Leben suchen. Ob er wohl ins Kloster gehen sollte? Sebi findet, er sei ein „Finöggel“, ein Weichei, das zu harter Arbeit nicht taugt und auch nicht mutig ist. Sebi flicht viele dieser Schweizer Ausdrücke in seine Erzählung ein, die meinen Lesefluss nicht gestört, sondern mich sehr erfreut haben.
Es gibt nicht den einen großen Spannungsbogen in diesem Buch. Dennoch empfand ich den Roman als äußerst kurzweilig. Die kindlich kluge Sprache federt die Grausamkeiten des Mittelalters etwas ab. Am Schluss der Lektüre bin ich dankbar im 21. Jahrhundert zu leben und kann die Errungenschaften von Gleichheit und Bildung noch mehr schätzen als zuvor.
Der Roman verdient die Aufmerksamkeit, die mehrere Preisjurys ihm gegeben haben. Ich bin sehr froh, mal außerhalb meines Genres gelesen und diese Perle entdeckt zu haben.
Der Halbbart, Charles Lewinsky, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 688 Seiten, 26,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das im Rahmen eines Gewinnspiels kostenlos zur Verfügung gestellte Exemplar.)
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