Freitag, 24. Juli 2020

Die Wahrheit über das Lügen, Benedict Wells

Nachdem mir zwei Romane von Benedict Wells gut gefallen hatten, war ich neugierig auf seine Kurzgeschichten. Dieser Band enthält „Zehn Geschichten aus zehn Jahren“, wie der Untertitel verrät. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich, mal lang, mal kurz. Viele von ihnen spielen mit der Kombination aus Realem und Übernatürlichem. Vor allem die Verschiebung der Zeitebenen hat es Wells angetan.

Am deutlichsten zeigt sich das in der namensgebenden und längsten Geschichte, „Das Franchise oder Die Wahrheit über das Lügen“. Darin geht es um einen Filmregisseur, der nach langer erfolgreicher Karriere einem Journalisten endlich die Wahrheit sagen will: Er kommt aus der Zukunft. Nur dadurch wurde es ihm möglich, die Star Wars-Filme zu drehen, und zwar erfolgreicher als die Originale. Wie? Was? Gibt es mehr als ein Original? Bis ins Detail hat Wells ausgesponnen, was sich ereignet hat, wer wem welchen Stoff geklaut hat und welche Veränderungen der Zukunft, die nun Gegenwart ist, sich daraus ergeben. Obwohl ich noch nie einen Star Wars-Film gesehen habe (was ich jetzt dringend nachholen muss!), fand ich die Geschichte sehr gut gemacht und habe mich glänzend amüsiert.

Zwei andere Geschichten sind besonders interessant, da sie Erweiterungen von Wells Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ sind, den ich sehr mochte. In „Die Nacht der Bücher“ spinnt der Autor eine Bemerkung aus dem Roman weiter aus zu einer Weihnachtsgeschichte. Im Roman wird eine Geschichte erwähnt von Büchern in einer Bibliothek, die sich nachts unterhalten. Genau diese wird hier nun erzählt, und zwar am Weihnachtsabend. Man kann die Geschichte gut verstehen, auch ohne den Roman zu kennen. Niedlich.

Die andere Geschichte hat Wells offenbar kurz vor Veröffentlichung aus dem Roman genommen, um den Schwerpunkt der Handlung nicht in eine falsche Richtung zu verschieben. „Die Entstehung der Angst“ schildert die Herkunftsgeschichte des Vaters des Protagonisten. Diese war in der Endfassung des Romans nur angedeutet und der Fantasie des Lesers überlassen. Sie überrascht nicht wirklich, ist kongruent mit der restlichen Handlung. Wer sich also das geheimnisvolle des Romans erhalten will, überspringt diese Geschichte.

Schön fand ich auch „Die Fliege“, in der das Schicksal einer Frau und die Bedeutung der geschilderten Situation anhand einer Fliege, die in ein Glas fällt, erklärt wird. Einfach, aber klug.

„Ping Pong“ empfinde ich als eine Anspielung auf Zweigs Schachnovelle. Zwei Männer sind über einen Zeitraum von mehreren Monaten in einem Raum gefangen, in dem es nichts weiter als eine Tischtennisplatte gibt. Der Sinn der Gefangenschaft bleibt unklar. Die beiden Männer spielen Tischtennis um ihr Leben, es ist die einzige Möglichkeit dem Wahnsinn zu entgehen. Ist es das wirklich?

„Wir waren uns ziemlich sicher, dass irgendwo an der Decke Kameras versteckt waren, doch sie war zu hoch, um es zu überprüfen. Noch immer reagierte niemand auf unser Rufen und Klopfen, niemand sprach zu uns, es gab auch keine Forderungen. Manchmal versuchten wir, auf unseren Tellern mit Essensresten kleine Botschaften und Fragen zu hinterlassen, doch nie erhielten wir Antwort, und die Stille setzte uns zunehmend zu. Sie wand sich immer tiefer in unser Gemüt und war der Grund all unseres Tuns, als stünden wir auf einer heißen Herdplatte und müssten uns fortwährend bewegen.“ („Ping Pong“, S. 74)

Wells Geschichten sind überwiegend sehr literarisch und unterscheiden sich durch das Übernatürliche deutlich von den Romanen. Sie lassen manches offen, was ich jedoch nicht als frustrierend empfand.  Die Geschichten haben mir Spaß gemacht. Langsam entwickle ich Geschmack und Gefallen an Kurzgeschichten (siehe die vorhergehende Rezension zu Kurzgeschichten von Bernhard Schlink). Spannend fand ich, dass den beiden Geschichten zu „Vom Ende der Einsamkeit“ jeweils eine Einordnung des Autors vorangestellt war. Durch diese Erläuterung konnte ich nachvollziehen, wie es dem Roman tatsächlich sehr zugute gekommen ist, die große hier veröffentlichte Szene herauszunehmen. Weniger ist mehr. Toll, wenn ein Autor das im eigenen Werk erkennt.

Wells macht Spaß, ob als Roman oder als Kurzgeschichte, er kann beides. Zwei weitere seiner Romane liegen schon auf meinem SuB, ich freue mich drauf!

Die Wahrheit über das Lügen, Benedict Wells, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 256 Seiten, 13,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

 

Zusatz-Info:

Meine Rezensionen zu Romanen von Benedict Wells finden sich hier:

Vom Ende der Einsamkeit

Fast genial

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