Abschiede können vielfältig im Leben vorkommen. Nicht selten meint Abschied in Schlinks Geschichten jedoch den Tod. Der Tod mag ein punktuelles Ereignis sein, der Abschied ist es nicht. Dieser findet allein im Kopf und im Herzen statt und kann sich über längere Zeit hinziehen. In Schlinks Geschichten treten mit den Erinnerungen an die Vergangenheit nicht selten Lebenslügen oder alte Verletzungen zutage.
In „Künstliche Intelligenz“ stirbt der alte Freund und Weggefährte Andreas, ohne dass der Protagonist ihm das eine gesagt hat, was er getan hat. War es wichtig? Hat er nicht nur im Sinne des Freundes gehandelt, so dass der Freund es verstanden hätte?
„Von meinem Freund Andreas wollte ich gar nicht Abschied nehmen. (…) Auch er war nach seinem Tod nicht anders in meinem Leben als davor; auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es nur, eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei.“ (Künstliche Intelligenz, S. 9/10)
Um die väterliche Freundschaft zur Tochter eines Freundes geht es in „Picknick mit Anna“. Er hat Anna aufwachsen sehen. Aber als sie eine junge Frau geworden war, liebte sie es, zu provozieren. Nein, nicht was Ihr jetzt denkt! Die Geschichte geht plötzlich in eine ganz unerwartete Richtung.
Den „Sommer auf der Insel“ verlebte der inzwischen gealterte Mann 1957 allein mit seiner Mutter, als er elf Jahre alt war. Er erinnert sich daran, dass er noch nie zuvor allein mit seiner Mutter verreist gewesen war und nun neue Seiten an ihr entdeckt hatte. Auch die Bekanntschaft mit einer anderen Familie am Urlaubsort bringt viel Neues für den Jungen. Erst nach dem Tod der Mutter kann er die Erlebnisse richtig einordnen.
„Geschwistermusik“ zeigt eine seltsame Dreiecksgeschichte auf, zwischen Susanne und ihrem behinderten Bruder Eduard und Philip, der in Susanne verliebt ist, aber auch Eduards Freund wird. Eines Tages gibt es einen abrupten Bruch, sehr viel später ein Wiedersehen, durch das Philip die Konstellation erst durchschaut.
Man sieht, es geht um eine Fülle von Beziehungen und Abschiede unterschiedlicher Couleur. Jede einzelne Geschichte ist sehr dicht erzählt. Es gelingt Schlink – wie so oft in seinen Kurzgeschichten – mit wenigen Worten das Setting zu umreißen und eine Stimmung zu erzeugen. Das Ausgangsszenario macht bereits Spaß beim Lesen. Dann jedoch merkt der Leser, dass er auf eine falsche Fährte gelockt wurde und der Clou in einer ganz anderen Richtung liegt. Es sind keine Kleinigkeiten, die sich offenbaren. Ihnen ist gemeinsam, dass es in der Regel zu spät ist, sie wiedergutzumachen. Man muss einfach damit leben, wie die Dinge gewesen sind. Deshalb haben die Geschichten Wucht und Schwere. Ich musste nach jeder eine Pause machen um sie zu verdauen. Fast jede würde auch genug Material für einen Roman abgeben. Durch die kurze Form sind Inhalt und Emotionen so dicht und ergreifend. Mein einziger kleiner Kritikpunkt ist, dass die männlichen Hauptpersonen alle dem gleichen Typ „intellektueller Bildungsbürger“ angehören, vielleicht weil dieser Typ dem Autor am nächsten ist? Die Protagonisten hätten für mich unterschiedlicher sein dürfen. Allerdings sind die Ereignisse in allen Geschichten sehr verschieden und Schlinks großartige Erzählkunst hat mich bei jeder einzelnen gefangen genommen.
Großartige Erzählungen mit wehmütiger Färbung, nicht immer leicht zu verdauen, mit berührender Tiefe. Wieder ein typischer Schlink, der kann’s einfach.
Abschiedsfarben, Bernhard Schlink, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 240 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
Zusatz-Info:
Weitere Kurzgeschichten von Bernhard Schlink habe ich hier rezensiert:
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