Dienstag, 30. Juni 2020

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak

Elif Shafak gehört zu den meistgelesenen türkischen Autorinnen. Die promovierte Politikwissenschaftlerin, die auf Türkisch und Englisch schreibt, lebt seit Jahren in London, wohl auch weil ihre Art über ihr Heimatland zu schreiben dem Regime nicht genehm ist. „Unerhörte Stimmen“ ist ihr neuster Roman und für mich der erste von ihr. Er spielt überwiegend in Instanbul, in Rückblenden auch in der Kleinstadt Van in Ostanatolien.

Aus dem englischen Titel des Buches wird der ungewöhnliche Aufhänger der Erzählung deutlich: 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge ist das Gehirn eines Menschen noch bis zu 10 Minuten und 38 Sekunden lang aktiv, nachdem Herzschlag und Atmung bereits aufgehört haben, der Mensch also stirbt. Gleich auf der ersten Seite des Romans erfahren wir, dass die Prostituierte Tequila Leila übel zugerichtet in einem Müllcontainer in Istanbul liegt und merkt, dass sie tot ist. 10 Minuten und 38 Sekunden lang denkt sie an verschiedene Momente ihres Lebens, so dass der Leser erfährt, wo die Frau herkommt und wie es zu dieser grauslichen Situation gekommen ist. Ferner denkt Leila an ihre fünf besten Freunde und hofft, dass diese von ihrem Tod benachrichtigt werden. Nach und nach lernen wir auch diese und ihre gemeinsame Geschichte mit Leila kennen.

„Niemals hätte sie geduldet, dass man von ihr als etwas Vergangenem sprach. Schon bei dem Gedanken fühlte sie sich klein und wertlos, und nichts war ihr mehr zuwider als dieses Gefühl. Nein, sie bestand auf der Gegenwartsform, obwohl sie gerade entsetzt feststellen musste, dass ihr Herz nicht mehr schlug und sie von einer Sekunde zur anderen aufgehört hatte zu atmen. So sehr sie es auch drehte und wendete – sie war tot.“ (S. 9)

Aus den Geschichten dieser sechs ungewöhnlichen Personen ergibt sich ein Gesellschaftspanorama und ein Bild der chaotischen Stadt Istanbul bis zum Ende der 1980er Jahre. Dabei beleuchtet der Roman vor allem die Underdogs und Außenseiter der Gesellschaft, insbesondere das Leben von Frauen. Leila wird Mitte der 1940er Jahre in Ostanatolien geboren. Ihre Mutter ist die zweite Ehefrau ihres Vaters, der in einer Mehrehe lebt. Ihre Mutter wurde jung verheiratet und ist Analphabetin. Nicht nur der muslimische Glaube prägt das provinzielle Leben, sondern mindestens in gleichem Maße der Aberglaube. Schon mit dem Vorgang der Geburt sind diverse Riten verbunden, um den bösen Blick oder Missbildungen von dem Baby abzuhalten. Die gesellschaftliche Trennung von Männern und Frauen wird beschrieben und welche Konsequenzen das streng patriarchale System hat.

Wie viele junge Mädchen, die der Enge des Elternhauses entfliehen wollen und allein und mittellos in die Großstadt Istanbul gehen, wird Leila Opfer von Menschenhändlern und landet im Bordell. Auch die Bordellkultur ist Ausdruck einer starken Doppelmoral. Dort lernt Leila andere Prostituierte, Transvestiten, Reinigungskräfte und Freier, aber auch ihre große Liebe kennen. Wie stark die dort geknüpften Bande sind, zeigt sich nach Leilas Tod. Im zweiten und dritten Teil des Romans erfahren wir, was Leilas Freunde tun, als sie von ihrem gewaltsamen Tod erfahren. Solche Freunde wünscht man sich.

Neben dem Thema Tod werden ganz nebenbei Gewalt gegen Frauen, arrangiere Ehen und Korruption thematisiert. Politische Verhältnisse in der Türkei werden eingearbeitet, z.B. der Blutige Sonntag von 1969, als bei einem Zusammenstoß von Kommunisten und Rechten anlässlich des Protests gegen das Anlegen der 6. Flotte der USA in Istanbul diverse Menschen unter den Augen der Polizei zu Tode kamen.

Leilas Geschichte macht mich betroffen. Obwohl sie fiktiv ist, scheint sie typisch für eine Generation ungebildeter Frauen zu sein. Die Vermischung von Religion und Aberglauben und die Dominanz von beidem hat mich schockiert. Ich habe viel über die Türkei erfahren, mit der ich noch nicht viel Berührung hatte. Natürlich zeigt das Buch nur einen bestimmten Ausschnitt der Gesellschaft, erschien mir insoweit aber realistisch. Die teilweise sonderbaren Charaktere des Buches haben mir gefallen, die auf klangvolle Namen hören wie Sabotage Sinan oder Zaynab122. Leilas Erleben kam mir sehr nahe, obwohl fast die ganze Geschichte von einer Toten erzählt wird.

Eine starke Geschichte über eine starke Frau im Getümmel Istanbuls, ungewöhnlich und dicht erzählt aus einer mir fremden Welt, mit skurrilen, aber liebenswerten Typen bevölkert. Gut zu lesen!

Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, aus dem Englischen von Michela Grabinger, Kein & Aber Verlag, Zürich – Berlin 2019, 432 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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