Es ist herzzerreißend, wie Paula sich immer wieder an diesen lebhaften kleinen Jungen erinnert, der noch so viel vorhatte im Leben. Gleichzeitig ist die Geschichte aber so voller Situationskomik, dass man kurz danach laut lachen muss. Paula vegetiert dahin in ihrer Wohnung, in der sich die leeren Pizzakartons mannshoch stapeln. Kochen geht schon lange nicht mehr.
„Gott sei Dank hatte ich keine Haustiere bis auf den Fruchtfliegenschwarm, der in der Obstschale in der Küche Quartier bezogen hatte. (…) Ich holte eine Rolle Mülltüten unter der Spüle hervor und dachte daran, wie du einmal als kleines Kind fast an so einer Tüte erstickt wärst. Wir hatten Verstecken gespielt und du warst vier oder fünf Jahre alt. Du hattest die Idee, dich als Müll zu tarnen, hast dir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und dich darin fürchterlich verheddert. (…) Ich hörte dein Weinen und konnte dich rechtzeitig befreien, bevor du in den Marianengraben herabgesunken wärst. (…) Ich stand bewegungslos in der Küche und hielt die Rolle immer noch in der zitternden Hand.“ (S. 76/77)
Richtig skurril wird es aber, als Paula einen schrulligen alten Mann – Helmut – kennenlernt. Schon die Umstände ihres Zusammentreffens sind mehr als ungewöhnlich. Aber es wird sofort klar, dass Sterben und Verlust auch für Helmut ein großes Thema sind. Obwohl sich die beiden zunächst nicht sehr mögen und bis zum Schluss des Buches per Sie bleiben, ergibt es sich, dass Paula und Helmut zusammen auf eine Autofahrt Richtung Süden gehen. Sie sind zufällig genau das, was der andere gerade braucht. Außerdem hat Paula gerade nichts Besseres vor.
Der Charme des Buches besteht für mich in der Eigentümlichkeit der Charaktere. Sie zeigen, dass jeder von uns schlimme Erfahrungen macht, jeder aber auf seine ganz eigene Weise damit umgeht. Da Paula selbst wahrnimmt, dass niemand ihre tiefe Trauer versteht, kann sie akzeptieren, dass Helmut gewisse Dinge tun muss, um mit der seinen umzugehen. Auch wenn daraus unglaubliche Situationen entstehen, wie auf einer Matte aus zusammengeklebten Kaffeefiltern zu duschen. Es geht nicht nur um den Tod in diesem Buch, sondern auch um die berührende Beziehung und tiefe Liebe zwischen Paula und ihrem Bruder. „Wäre Sehnsucht eine olympische Disziplin, ich hätte uns längst Gold geholt.“ (S. 150), sagt Paula selbstironisch.
Ich mag die Sprache dieses Romans und die widerstreitenden Gefühle. Man muss nicht immer Sinn machen, so ist der Mensch eben. Die Emotionen kommen sehr authentisch rüber. Und trotz aller Trauer wird das Wunder des Lebens gefeiert. Ebenso wie Paula ist die Autorin studierte Biologin. Mit Begeisterung schildert sie die wunderbaren Kreaturen der Tiefsee mit ihren atemberaubenden Eigenschaften, etwa den Gespensterfisch mit seinem durchsichtigen Schädel oder den Octopus, der ein eigenes Gehirn zur Steuerung jedes einzelnen Arms hat.
Wer jemals einen geliebten Menschen verloren hat, wird durch dieses Buch sehr berührt werden, und auch das Gefühl kennen, aus 11.000 Metern Tiefe langsam wieder ins Leben aufzusteigen. Sehr lesenswert.
Marianengraben, Jasmin Schreiber, Eichborn Verlag, Köln 2020, 254 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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