„MAE
Während Dad Tag und Nacht tippte und Seiten zerknüllte, langweilte ich mich zu Tode. Ich spielte mit der Katze, choreografierte einen Tanz zum Rhythmus der Schreibmaschine, schlug ein Buch in der Mitte auf und fing an zu lesen. Aber nichts konnte mich wirklich ablenken, weil ich vollkommen auf ihn fixiert war – ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren. (…)
Nach einem Essen im Thai-Restaurant, bei dem er nicht ein Wort von sich gab, hielt ich es schließlich nicht mehr aus. „Du liebst sie mehr als mich“, sagte ich, während er über unsere leeren Teller hinweg ins Nichts starrte.
„Wen?“, fragte er, blinzelte mehrmals und war kurz wieder bei mir.
Ich hatte Edie gemeint, merkte aber, dass er an jemand anderen dachte.“ (S. 185)
Es ist der Beginn einer neuen Beziehung zwischen Vater und Töchtern. Aber ist ein Neuanfang immer positiv? Die Mädchen gehen sehr unterschiedlich mit der Situation um. Mae wünscht sich nichts so sehr, als von ihrem Vater geliebt und wahrgenommen zu werden. Sie hat sehr unter den Verhältnissen bei der Mutter gelitten, während Edie unbedingt zurück in ihr altes Leben will. Edie lässt nichts auf ihre Mutter kommen und weist Maes Kritik an dieser zurück. Sie ist genervt von den Frauen, die ihren berühmten Vater umschwirren und von dessen Schwester Rose, die ihren Bruder für einen Helden hält. Edie ist überzeugt davon, dass es der Vater mit seinem grenzenlosen Egoismus gewesen sein muss, der ihre Mutter so sehr gebrochen hat, dass sie psychisch erkrankt ist.
Die komplexe Geschichte wird nicht nur von Edie und Mae erzählt, sondern auch von diversen außenstehenden Personen, die bei einzelnen Ereignissen zugegen waren. Erzählt wird sowohl in Rückblenden als auch in der Jetztzeit, alte Briefe und Tagebucheinträge werden zitiert. Antworten finden sich auch in den vom Vater verfassten Romanen, die offenbar teilweise autobiografisch sind. Thematisch bringt uns das Buch teilweise bis in die 60er Jahre zurück zum Freiheitskampf gegen die Rassentrennung. Der einzige, der nur indirekt zu Wort kommt, ist der Vater, der sich als „toxische Kraft im Leben anderer Leute“ bezeichnet. Für den Leser ergibt sich ein detailliertes Bild der Familie, das sonst niemand vollkommen zu erfassen scheint. Jeder ist zu sehr in seine eigene Rolle verstrickt, kennt nicht alle Hintergründe oder nicht alle Beteiligten.
Das Ergebnis der familiären Verstrickungen ist verstörend. Unsagbares Leid auf Seiten der Kinder, aber auch im Leben der Mutter treten zutage. Es wird deutlich, warum die Geschwister die Situation so fundamental unterschiedlich erlebt haben und welche verzweifelten Wege die drei Frauen suchen, um sich aus dem Geflecht zu befreien und endlich sie selbst sein zu können. Der Autorin gelingt eine empathische, feinfühlige Darstellung der Charaktere. Die Geschichte gräbt sich durch mehrere Schichten tiefer und tiefer in die Zusammenhänge hinein, das fand ich sehr spannend. Der Wahnsinn ist mit Händen zu greifen und dabei sehr nachvollziehbar. Sich wiederholende Muster werden aufgedeckt. Obwohl auf der Sachebene krasse Dinge passieren, liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf den inneren Vorgängen der drei Frauen. Der Ursprung ihres Leides lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Jeder möchte nur geliebt werden und sich geborgen fühlen.
Ein dichtes, intensives Buch, das in verstörender Weise zeigt, wie sehr unsere Familie uns zerstören kann. Faszinierend und mit viel Tiefe geschrieben.
Je tiefer das Wasser, Katya Apekina, aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 396 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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