Der Roman wird in drei Teilen erzählt. Die Geschichte dreht sich um Norbert Paulini, der 1977 in Dresden ein Buchantiquariat eröffnet. Er ist ein echter Buchliebhaber, zu dem man kommt, um wertvolle Erstausgaben zu erstehen oder Bücher zu erwerben, die sonst nicht zu bekommen sind. Paulini ist schrullig, seine Welt besteht nur aus Büchern. Um ihn scharen sich die Literaten, für die er schon bald einen samstäglichen Salon anbietet. „Prinz Vogelfrei“ lässt er sich nennen, denn der Leser ist im Geiste frei. Das Geschäft läuft gut. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, dass Paulini sich schwer von den geliebten Werken trennen kann.
Als die Wende 1989 kommt, verändert sich Paulinis Welt. Ausreisewillige Dresdner bieten ihm wunderbare Literatur für einen Spottpreis zum Ankauf an. Als er nach dem Mauerfall Bücherberge aus DDR-Produktion auf einer Müllhalde liegen sieht, rettet er, was zu retten ist. Aber das Kaufverhalten ändert sich. Paulini verändert sich ebenfalls. Schicksalsschläge treffen ihn. Was ihm bleibt, sind Bücher.
„Jeder Mensch musste sich eines Tages entscheiden, wie er zu leben wünschte. Er hatte sich für das intensivste und angenehmste Leben entschieden, das einem Menschen möglich war, für das Leben eines Lesers.“ (S. 59)
Im zweiten Teil gibt sich der Autor des ersten Teils, ein Schriftsteller namens Schultze zu erkennen, erzählt von seinem eigenen Werdegang in der DDR und danach, und berichtet, welchen Einfluss Paulini auf ihn gehabt hat. Kann und soll er Paulini mit einer Erzählung ein Denkmal setzen? Will Paulini das überhaupt?
Jedes Buch braucht eine Lektorin. Die des Schriftstellers Schultze erzählt uns den dritten Teil des Romans. Sie nimmt Nachforschungen auf über die beschriebenen Personen. Manches ist nicht so wie es scheint. Am Ende gibt es zwei Tote und die offene Frage, ob ein Dritter deren Tod verursacht hat, und wenn ja, wer?
Der Roman ist voller Themen. Da geht es um Stasi-Spitzel, den Literaturbetrieb in Ost und West, Wendeverlierer, die große Liebe und Eifersucht, Rechtsextremismus und Enteignung von Grundbesitz im Osten. Vor allem aber geht es um die Liebe zu Büchern und Literatur. Zumindest das erste Drittel des Buches ist ein behagliches Wohlfühlerlebnis für jede begeisterte Leserin. In schönstem Einverständnis begleiten wir den büchervernarrten Antiquar. Doch dann wird klar, dass keine der auftretenden Personen eindeutig schwarz oder weiß ist. Kann ein gebildeter, belesener Mann mit Pegida sympathisieren? Wie weit geht einer, der von seiner großen Liebe hinters Licht geführt wird? Sind all die Ostklischees ein bisschen wahr, die man sich im Westen bis heute erzählt?
Mir haben die Erzählweise und die unaufdringlich schöne Sprache des Romans sehr gefallen. Ich liebe Geschichten im Büchermilieu, dort fühle ich mich heimisch. Auf einmal muss man höllisch aufpassen, denn insbesondere im letzten Drittel des Buches passieren mehr und mehr verwirrende Dinge, die man nicht sofort einordnen kann. Viele Fragen bleiben am Schluss offen, der Leser muss sich seinen eigenen Reim darauf machen. Sind nicht die Buchmenschen immer die Guten? Oder doch nicht?
Der Inhalt wird unterstützt durch die wunderschöne Gestaltung der Hardcover-Ausgabe, ein ansprechendes Cover gepaart mit sehr angenehmem Satz und dem richtigen Format, das gut in der Hand liegt. So mag ich das.
Ich liebe dieses Buch, in dem sich jeder begeisterte Leser und Buchsammler verstanden fühlen wird. Es ist raffiniert komponiert und streut mit erstaunlicher Leichtigkeit die großen Themen der Wende ein. Herrlich!
Die rechtschaffenen Mörder, Ingo Schulze, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020, 320 Seiten, 21,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)
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