In diesem französischen Roman haben zwei Frauen eine
Schraube locker. Die übergewichtige Fleur ist 76, lebt mit ihrem überfütterten
Hündchen Mylord zusammen und verlässt meist nur einmal wöchentlich das Haus.
Sie hat eine faustdicke Angststörung mit Sozialphobie und Agoraphobie. Harmonie
ist erst 26 und ihr Leben entspricht so gar nicht ihrem Vornamen. Sie leidet am
Tourette-Syndrom, einer unheilbaren neurologischen Erkrankung, die sie ständig
unwillkürliche Bewegungen machen und Schimpfwörter ausstoßen lässt. Die beiden
Frauen lernen sich durch Zufall kennen, schon ihre erste Begegnung gipfelt in
einer Katastrophe. Doch dann entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden
– hauptsächlich weil Fleur zu ängstlich ist, um nein zu sagen.
„Die junge Frau hat mich angeschaut und Sachen zu mir gesagt, oder vielmehr geschrien, die so vulgär waren, dass ich sie nicht wiedergeben kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie noch weiß.Fette H…, Schl…! Glaube ich. Und das Schlimmste ist, dass sie mich danach angelächelt hat, als wäre nichts.Ich war so schockiert, dass ich ihr die Tür vor der Nase zugeknallt habe, gegen alle Regeln der Höflichkeit, und umso schneller, als sie in dem Moment versucht hat, mir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Mit dem Ergebnis, dass meine gepanzerte Tür ihren rechten Arm eingeklemmt hat.“ (S. 56/57)
Beide Frauen werden durch ihre Erkrankungen und ihr
Anderssein daran gehindert ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Fleur versteckt
sich vor dem Leben und wirft ständig Beruhigungspillen ein. Harmonie ist auf
die Hilfe ihres Freundes angewiesen, da sie mit ihrer Erkrankung keinen Job
findet. Der Roman wird abwechselnd von den beiden Charakteren erzählt. Zuerst
fand ich vor allem Fleur ungeheuer nervig. Sie ist überempfindlich, kommt beim
Erzählen von Hölzchen auf Stöckchen und lässt sich von ihrer blasierten
Freundin herunterputzen. Außerdem ist sie in ihren russischen Arzt verknallt.
Dagegen ist Harmonie eine erfrischend zupackende Frau ohne jedes Selbstmitleid.
Ihre Tics und unwillkürlichen Laute werden im Text mitgeschrieben
(„Wu-Hu-Ha-Ha“).
Interessant wird die Geschichte, als beide Frauen
miteinander in eine Entwicklung kommen. Fleur muss sich damit arrangieren, dass
Harmonie ständig etwas herunterfällt. Harmonie bekommt durch Fleur ein neues
Betätigungsfeld jenseits des Lebens mit ihrem Freund, der sie zwar beschützt,
sie aber dadurch auch einengt. Wir treffen weitere, teilweise ungewöhnliche Menschen
aus dem Viertel. Irgendein Päckchen hat ja jeder zu tragen. Mit viel
Situationskomik bewältigen sie alle ihren Alltag und kommen ihren Träumen ein
bisschen näher. Auch wenn es am Schluss ein bisschen rosarot wird, hat mir die
Geschichte doch viel Spaß gemacht. Es ist einfach schön zu sehen, wie Menschen
sich entwickeln und ihre Komfortzone verlassen, um zu wachsen.
Ein humorvolles Buch
über ungewöhnliche Menschen, das uns zeigt, dass jeder aus seinem Leben mehr machen
kann, wenn er seine Eigenarten nicht als Limit begreift.
Wenn das Schicksal anklopft, mach auf, Marie-Sabine Roger,
aus dem Französischen von Claudia Kalscheur, Atlantik im Hoffmann und Campe Verlag,
Hamburg 2020, 304 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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