Alle Welt liest in der Corona-Krise „Die Pest“ – die Franzosen
sowieso, aber auch in Deutschland musste der Verlag in den letzten Wochen gleich
mehrere Auflagen nachdrucken. Wieso?, wundern sich manche. Warum von Krankheit
lesen, wo man doch sowieso nichts anderes den ganzen Tag in den Nachrichten hört.
Meine Antwort ist: Um sich verbunden zu fühlen, um sich als Teil eines großen
Ganzen zu verstehen. Mit der halben Welt zur gleichen Zeit dasselbe Buch zu
lesen wie in einem globalen Buchclub, ist bereits ein Gemeinschaftserlebnis.
Aber auch die Geschichte selbst hilft bei der kognitiven Verarbeitung der
heutigen Pandemie.
Camus‘ Roman wurde erstmals 1947 veröffentlicht und spielt
in den 1940er Jahren in Oran, einem Ort an der algerischen Küste. Beschrieben wird
eine (fiktive) Pest-Epidemie. Man kann das Buch jedoch auch allgemein als einen
Bericht über einen Prozess der geistigen und körperlichen Zerstörung in einer
absurden Situation lesen, da Camus darin seine Erfahrungen des 2. Weltkriegs
verarbeitet. Beschrieben wird die Epidemie in fünf Teilen, die den Stadien der
Epidemie zugeordnet sind, von ihrer Entstehung bis hin zu ihrem Ende. Der Erzähler
beschreibt, wie verschiedene Menschen und damit auch verschiedene Teile der Gesellschaft
mit der Epidemie umgehen.
Der Erzähler ist Dr. Bernard Rieux, ein Arzt in Oran, dessen
Ehefrau kurz vor Ausbruch der Epidemie zur Kur in einen entfernten Ort gefahren
ist. Nach Abriegelung der Stadt (Quarantäne) bleibt das Ehepaar daher für den Verlauf
der Geschichte getrennt. Dr. Rieux ist einer der ersten, der die seltsame
Erkrankung, die plötzlich auftritt, als die Pest identifiziert.
Wir begegnen dem Geistlichen Pater Paneloux, der flammende
Predigten hält und zur Buße mahnt. Er hält die Epidemie für eine Strafe Gottes
und wirft elementare Fragen des Glaubens und der Existenz Gottes im Angesicht des
täglichen Elends auf.
Cottard ist ein Rentner, der zu Beginn der Geschichte so
verzweifelt ist, dass sein Selbstmordversuch nur knapp durch einen Nachbarn verhindert
werden kann. Seine Verzweiflung verliert sich während der Epidemie.
Tarrou, der Nachbar Rieux‘ gründet eine Schutztruppe aus
Zivilisten während der Epidemie, die z.B. beim Abtransport der Leichen hilft.
Und dann gibt es noch den französischen Journalisten Rambert, der die Stadt
nicht mehr rechtzeitig vor deren Abriegelung verlassen konnte, einen Richter
und einige Schmuggler und Menschenschieber.
Die eigentliche Geschichte wird jedem bekannt vorkommen. Ein
Arzt sieht mehrere Patienten sterben, berät sich mit Berufskollegen und erkennt
die gefährliche Pest. Als er den Politikern vorschlägt, Schutzmaßnahmen für die
Bevölkerung zu ergreifen, versucht man ihn mundtot zu machen. Man wisse doch
noch viel zu wenig über die Erkrankung, er würde Panik verbreiten. Niemand in der
örtlichen Stadtverwaltung möchte derartige Maßnahmen verantworten. Man wartet
lieber auf Anweisungen von oben. Das dauert.
Schließlich wird die Stadt abgeriegelt (allerdings ohne Ausgangssperre),
was einerseits zur Trennung der Bewohner von geliebten Menschen führt, die sich
außerhalb der Stadt aufhalten und zu denen der Kontakt schwierig ist. Dies ist vergleichbar
mit der Trennung von Familie und Freunden aufgrund der jetzigen
Kontaktbeschränkungen. Natürlich bilden sich Schlepperbanden, die Menschen
illegal ein- und ausschleusen. Andererseits führt die Abriegelung zu einem
größer werdenden Versorgungsproblem, weil bestimmte Nahrungsmittel und
Verbrauchsgüter knapp werden. Die ersten Profiteure der Krise sind die
Schwarzmarkthändler, die plötzlich Kleinigkeiten zu horrenden Preisen verkaufen
können. Aber warum werden ausgerechnet Pfefferminzpastillen knapp? Nun, jemand
hat das Gerücht verbreitet, dass diese Pastillen vor der Pest schützen würden. Wundermittel
sind in jeder Krise gefragt.
Aber nicht nur die Schwarzhändler profitieren von der Ausnahmesituation.
Die öffentliche Verwaltung hat alle Hände voll zu tun, um den Aufbau von
Isolierlagern und Behelfskrankenhäusern zu organisieren. Da bleibt für das Tagesgeschäft
keine Zeit mehr, so dass Cottard aufatmen kann, der seine Verhaftung wegen
früherer Verbrechen jedenfalls während der Epidemie nicht mehr befürchten muss.
Einen wirklich wirksamen Impfstoff gibt es nicht. Zwar wird
nach einem Serum geschickt, das erst aus Paris hergeschafft werden muss. Aber
wirklich wirksam scheint es gegen diesen Erreger auch nicht zu sein. Ein Arzt
forscht fieberhaft an seinem eigenen Serum.
In der Ausnahmesituation muss mit alten Konventionen
gebrochen werden. Bei der Masse von Toten kann das Beerdigungsritual nicht mehr
wie gewohnt vollzogen werden. Die Angehörigen der Verstorbenen sind längst in
Quarantäne und können keine Trauerfeier ausrichten. Die Särge müssen mit der Straßenbahn
abtransportiert und in Massengräbern beigesetzt werden. Erinnert uns das nicht
an Bilder von italienischen Militärlastwagen in den letzten Wochen? All dies
wirft die Frage auf, ob es einen Gott geben kann, der all dieses Leid geschehen
und sogar unschuldige Kinder jämmerlich sterben lässt.
Aber es gibt auch die Uneigennützigen, die ihrer Arbeit derzeit
nicht nachgehen können, wie etwa der Journalist Rambert, oder den politisch
aktiven Tarrou, die nicht untätig herumsitzen wollen, sondern zivile
Hilfstrupps bilden, um den überforderten Behörden und Krankenpflegern bei der Bewältigung
der Krise zu helfen.
Vor allem die unabsehbare Dauer der Epidemie zerrt an den
Nerven aller. So sagt der alte Hotelportier:
„Ach, wenn es doch ein Erdbeben wäre! Ein ordentlicher Stoß, und damit hat es sich… Man zählt die Toten, die Lebenden, und dann ist die Sache erledigt. Aber diese Saukrankheit! Selbst die, die sie nicht haben, tragen sie im Herzen.“ (S. 131)
Was mich an diesem Roman fasziniert hat, ist die ungeheure
Parallelität der Ereignisse mit der Corona-Pandemie. Es wurde mir klar, dass eine
menschliche Gesellschaft wahrscheinlich zu allen Zeiten ähnlich auf eine
Epidemie reagiert, also auch die Pest-Epidemien im Mittelalter nicht wesentlich
anders abgelaufen sind. Das Tröstliche daran ist, dass zwar das Coronavirus,
das uns heute bedrängt, neu sein mag. Die Erfahrung des Ausnahmezustands angesichts
einer unbeherrschbaren Krankheit ist es aber nicht. Der Stand der Technik unterscheidet
uns vom Mittelalter, in dem es noch kein Internet gab. Die menschlichen Erfahrungen
werden aber sehr ähnlich gewesen sein, etwa das Gefühl der Trennung von
geliebten Menschen, die Angst, dass man selbst oder die Familie erkranken und
sterben könnte, der Mangel an manchen Gütern, das Ausgeliefertsein und die
Ungewissheit, die wirtschaftlichen Folgen der Krise und die Erfahrung, dass es
in jeder Krise auch Profiteure und uneigennützige Solidarität gibt. So sind wir
heute Teil einer universellen Menschheitserfahrung, nicht nur weil die Pandemie
weltumspannend ist, sondern auch weil wir durch die Jahrhunderte mit allen
Menschen verbunden sind, die andere Epidemien durchgemacht haben. Eine Gewissheit
gibt es: Es wird vorbeigehen.
Dieser Klassiker hat
mich getröstet und mir ein System hinter der chaotischen Krise gezeigt. Menschen
haben zu allen Zeiten Epidemien durchlebt. Das Buch verbindet mich mit ihnen allen.
Die Pest, Albert Camus, Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt Taschenbuch
Verlag, Reinbek bei Hamburg 2020, 352 Seiten, 12,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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