Keiko Furukura ist eine Ladenhüterin im doppelten Sinne. Sie
ist 36 Jahre alt, unverheiratet und arbeitet seit 18 Jahren als Aushilfe in
einem Laden, genauer gesagt in einem 24 Stunden-Convenience Store, der in Japan
„Konbini“ genannt wird. Der Laden ist Keikos Leben. Dort fühlt sie sich wohl
und nützlich. Nur scheinen alle anderen ein Problem mit ihrem Leben zu haben. Ständig
muss sie sich dafür rechtfertigen, dass sie in ihrem Alter nicht längst einen
der gesellschaftlich erwarteten Wege eingeschlagen hat: Karriere oder
Familiengründung, oder beides.
Keiko ist eine Außenseiterin. Schon in ihrer Kindheit hat
sie erfahren, dass sie anders als alle anderen reagiert und niemand dies versteht.
Die meisten Dinge sind ihr egal. Sie empfindet wenig. Aber auffallen und den
Eltern Verdruss bereiten, das möchte sie nicht. Also passt sie sich an. Da sie
die gesellschaftlichen Regeln nicht instinktiv versteht, ist sie froh, dass es bei
der Arbeit im Konbini feste Regeln für alles gibt. In einer Schulung lernt sie,
wie sie Kunden zu begrüßen, zu bedienen und zu antworten hat. Sie liebt es, in
ihrem Job in eine Uniform schlüpfen zu können, in der alle Angestellten gleich
aussehen. So ist sie endlich Teil einer Gruppe und keine Außenstehende mehr. Sie
kann den Tonfall und den privaten Kleidungsstil der Kolleginnen unauffällig nachahmen.
Niemand bemerkt mehr, wie anders Keiko ist, wenn sie diese Maske überstreift. Nach
ihrem Studium behält sie ihren Aushilfsjob einfach bei und übt ihn in Vollzeit
aus.
„Als Erstes übten wir die Begrüßung und den dazu passenden Gesichtsausdruck. Laut Anweisung mussten wir die Mundwinkel zu einem Lächeln hochziehen und mit geradem Rücken in einer Reihe stehend „Herzlich willkommen!“ rufen. (…)Im Hinterzimmer zeigte man uns ein Video, und es gelang mir problemlos, die dargestellten Verhaltensweisen zu imitieren. Zum ersten Mal wurden mir ein „normaler Gesichtsausdruck“ und eine „normale Art zu sprechen“ beigebracht.“ (S. 17/18)
Doch irgendwann ist Keiko zu alt für dieses Leben, das die
japanische Gesellschaft nur als Übergangsstadium akzeptiert. Würde man sie endlich
in Ruhe lassen, wenn sie einen Mann heiraten würde? Das kann doch nicht so
schwer sein, so einen bürokratischen Akt zu vollziehen. Es scheint ohnehin
niemand zu bemerken, dass Keikos öffentliches Leben nur eine Maske ist und
nicht ihr wahres Selbst. Hat sie überhaupt ein wahres Selbst?
Dieser vergnügliche und absurde Roman nimmt die oft starren gesellschaftlichen
Regeln Japans ins Visier. In kaum einem anderen Land sind die Höflichkeitsformen
so ausgefeilt und die Verhaltenserwartungen so detailliert. In ähnlicher Weise
wäre die Geschichte aber auch in jeder anderen Gesellschaft denkbar. Keiko ist
anders als die Norm, möglicherweise ist sie im autistischen Spektrum,
jedenfalls kann sie ungeschriebene gesellschaftliche Codes nicht entschlüsseln.
Dennoch versucht sie ihnen zu genügen, um nicht anzuecken. Sie macht die Erfahrung,
dass Menschen, die nicht ins Raster passen, von den anderen abgelehnt und
schließlich beseitigt werden. Keiko fühlt sich nie wirklich zugehörig. Man
redet ihr sogar ein, sie sei kein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft,
da sie keiner „richtigen Arbeit“ nachgehe und als Kinderlose nicht zur
Erhaltung der Art beitrage. Ihre Familie versucht, sie zu „heilen“, obwohl sie
selbst gar nicht leidet – nur unter der Ablehnung der anderen.
In der Geschichte lotet Keiko aus, inwieweit sie
gesellschaftlichen Normen entsprechen kann und will. Sie bekommt zu spüren,
dass Frauen einer deutlich anderen Erwartung ausgesetzt sind als Männer. Die Gesellschaft
schreibt klare Geschlechterrollen vor. Keiko wird getrieben von der Angst, auch
noch ihren jetzigen Halt zu verlieren, als zu seltsam ausgemustert zu werden
und ihre Arbeit zu verlieren. Wer wäre sie noch ohne ihre Arbeit, ohne die von
dort geliehene Identität? Sie weiß es nicht, weshalb es ihr so schwerfällt,
sich selber treu zu bleiben.
Ein leichter, gesellschaftskritischer,
absurd-lustiger Japan-Roman, der durch seine Überzeichnung viel Anlass zum Nachdenken
auch über unsere westlichen Rollenerwartungen gibt. Leihen nicht auch wir uns Identitäten
von Influenzern, Werbung und anderen Vorbildern aus?
Die Ladenhüterin, Sayaka Murata, aus dem Japanischen von Ursula
Gräfe, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 160 Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
Zusatz-Info:
Der Roman ist inzwischen beim Aufbau Verlag auch als
Taschenbuch zum Preis von 10,00 EUR erschienen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen