Franziska Hausers Roman „Die Gewitterschwimmerin“ war für
den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert. Da mir das Buch gut gefallen hatte, war
ich sehr neugierig auf ihren neuen Roman. Wieder hat die Geschichte einen
DDR-Bezug, auch wenn dieser nicht ganz so prägend ist wie im Vorgängerroman. Die
Autorin ist 1975 in Ost-Berlin geboren.
Dunja und Saphie sind Zwillinge, sind sich jedoch gar nicht
ähnlich, weder äußerlich noch innerlich. Zusammen mit ihrer zehn Jahre jüngeren
Schwester Lenka nennt man sie im Dorf „die Glasschwestern“, weil ihr Vater
Glasbläser gewesen ist. Nach der Wende ist das Glasbläserkombinat jedoch bald
abgewickelt worden. Man sagt, das Leben von Zwillingen verlaufe oft seltsam
parallel. Durch Zufall und ohne Zusammenhang sterben die Männer von Dunja und
Saphie am selben Tag. Beide reagieren sehr unterschiedlich darauf, wollen sich
aber unbedingt gegenseitig beistehen. Saphie betreibt im Heimatdorf der Familie
ein kleines Hotel. Dunja, die ihre beiden Kinder in der Stadt aufgezogen hat,
zieht zu Saphie und hilft ihr im Hotel. Ihr Sohn Jules studiert, ihre Tochter
Augusta geht auch bereits eigene Wege. Saphie, die keine Kinder hat, ist froh
über die Hilfe im Betrieb. Wir begleiten die Familie durch das erste Jahr nach
den Todesfällen.
„An dieser Bushaltestelle hat Dunja mit ihrer Schwester zehn Jahre lang jeden Morgen gestanden und auf ihr Leben gewartet. Sie stellt sich vor, sie hätte als Jugendliche dieser Frau gegenübergesessen, als die sie jetzt auf der anderen Straßenseite steht: Sieh mich an. Ist es das, worauf du gewartet hast? (…)Ihr fällt wieder ein, warum sie nie zurückkehren wollte. Der Ort ignoriert, was das Leben woanders aus ihr gemacht hat. Was in der Stadt aus ihr geworden ist, will niemand wissen. Stattdessen zeigt ihr der Ort wie ein alter Spiegel, wer sie damals hier gewesen ist. Dass sie dem Dorf ihre Kinder vorenthalten hat, wird es ihr nie verzeihen.“ (S. 60)
Der Tod ihrer Männer bringt beiden Frauen zum einen
Einsamkeit, zum anderen neue Freiheit. Beide stellen – zu unterschiedlichen
Zeitpunkten – alle ihre Lebensumstände in Frage. War die Beziehung eine
glückliche? Was bleibt, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Was bleibt, wenn man
nie Kinder gehabt hat? Will ich in der Stadt oder auf dem Land leben? War die
Berufswahl die richtige? Kann man mit fast vierzig noch einmal etwas ganz Neues
anfangen? Dass der Tod des Partners einen Neuanfang bringen muss, ist klar. Bedarf
es dazu aber einer gedanklichen Aufarbeitung der Vergangenheit oder ist es
besser, einfach nach vorne zu schauen? Dunja und Saphie gehen durch Phasen von
Verleugnung, Zusammenbruch, Reflektion und Selbsterforschung. Manchmal erkennen
sie die Schwester kaum wieder, oft wissen sie nicht, wer sie selbst eigentlich
sind. Ob sie wollen oder nicht, ihr Heimatdorf ist angefüllt mit
Kindheitserinnerungen, dem Tratsch der Dorfbewohner, deren Familien seit
Ewigkeiten dort wohnen, und der Person, die Dunja und Saphie als Kinder dort gewesen
sind. Nach und nach wird den Schwestern bewusst, dass es Dinge in der Vergangenheit
gibt, über die sie nie gesprochen haben, über die andere viel mehr zu wissen
scheinen als sie selbst. Sie müssen sich den Dingen stellen.
Franziska Hauser beschreibt die inneren Prozesse ihrer
Figuren in einem langsamen Tempo, lässt uns teilhaben an ihren inneren Widerständen
und ihren Träumen. Sogar nachts spielt Glas eine große Rolle. Beiden Schwestern
erscheint im Traum ein gläserner Mensch – ein alter ego? Der Vater hat
wunderschöne Kugeln, Perlen und kleine Tiere aus Glas hergestellt, aber an
einer Glasscherbe kann man sich auch gefährlich schneiden. Glas kann leicht
zerbrechen, ebenso wie Lebensträume und Pläne. Aus Glas kann man erfrischendes
Wasser und prickelnden Sekt trinken. Man kann dabei aber auch zu tief ins Glas
schauen. Glas kann eine Lebensgrundlage, kann Kunst sein – oder ein bedeutungsloses
Accessoire, das einen nicht ernährt. Die Glasschwestern sind nicht so
durchsichtig, wie sie meinen. Es ist nicht alles klar, nur weil es aus Glas
ist. Das an sich interessante Thema hätte einen etwas stärkeren Spannungsbogen vertragen können, um den Leser auf über 400 Seiten bei der Stange zu halten.
Ein leiser Roman mit
wunderschönen Glasmetaphern, in dem selbst Schicksalsschläge und Todesfälle unspektakulär
wie ein kleines Rauschen erzählt werden.
Die Glasschwestern, Franziska Hauser, Eichborn Verlag in der
Bastei Lübbe AG, Köln 2020, 430 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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