Zeit für einen Klassiker! Ich hatte tatsächlich noch kein
Buch des Nobelpreisträgers Camus gelesen, was ich dringend ändern musste.
Angesichts der Ereignisse der letzten Monate erschien es mir naheliegend ein
Buch zu wählen, in dem ein Weißer einen namenlosen Araber erschießt. Der Roman
erschien erstmals 1942 und gilt als eines der Hauptwerke Camus und auch des
Existenzialismus.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Der Franzose Meursault
lebt allein in Algier. Zu Beginn des Romans stirbt seine Mutter, die in einem
Altenheim außerhalb der Stadt gelebt hat. Meursault fährt zu Totenwache und
Beerdigung hin. Anderntags beginn er ein Verhältnis mit Marie, die im selben
Betrieb wie Meursault arbeitet. Ein Nachbar von Meursault, Raymond, hat ein
Verhältnis mit einer Araberin. Raymond will der Frau eine Lektion erteilen,
wobei Meursault ihm hilft. So kommt es zum Streit mit dem Bruder der Frau, der
dabei zu Tode kommt. Meursault wird der Prozess gemacht.
Die Geschichte plätschert langsam vor sich hin, obwohl darin
zwei Todesfälle vorkommen. Meursault beschreibt in kurzen, einfachen Sätzen sein gleichförmiges Leben, mit dem er ganz zufrieden ist. Er ist dabei völlig teilnahms- und emotionslos. Die ganze
Geschichte wird von völliger Gleichgültigkeit bestimmt. Meursault ist alles
egal, er hat meistens keine Meinung und spricht deshalb auch nicht viel. Dies
gilt sogar für die Beziehung zu Marie.
„Abends hat Marie mich abgeholt und hat mich gefragt, ob ich sie heiraten wollte. Ich habe gesagt, das wäre mir egal, und wir könnten es tun, wenn sie es wollte. Sie hat dann wissen wollen, ob ich sie liebte. Ich habe geantwortet wie schon einmal, dass das nichts heißen wollte, dass ich sie aber zweifellos nicht liebte. „Warum willst du mich dann heiraten?“, hat sie gesagt. Ich habe ihr erklärt, dass das völlig belanglos wäre und dass wir, wenn sie es wünschte, heiraten könnten. Im Übrigen wäre sie es, die fragte, und ich würde lediglich ja sagen.“ (S. 57)
Der Ich-Erzähler Meursault berichtet seine Beobachtung von
Leuten auf der Straße genauso gleichgültig wie das Erlebnis seines Gerichtsprozesses
mit einer Mordanklage. Das ist das Schockierende an diesem Buch. Ebenso distanziert
ist die Schilderung des Geschehens zwischen dem Nachbarn Raymond, dem man
nachsagt ein Zuhälter zu sein, und der arabischen Frau, die von Raymond
unterhalten wird. Auch Raymond berichtet emotionslos, wie er die Frau „bis aufs
Blut geschlagen“ (S. 42), wie sie dann ein bisschen geschrien hat und er sie noch mehr
bestrafen wolle, weil er sich von ihr finanziell betrogen fühlte.
Man kann sich fragen, wer eigentlich der im Titel genannte
Fremde ist. Einerseits handelt es sich um den namenlosen Araber, der erschossen
wird. Andererseits ist auch Meursault selbst ein Fremder in der Gesellschaft,
ein Außenseiter, der alle gesellschaftlichen Konventionen verletzt, zugibt
Atheist zu sein und sich nie so benimmt, wie man es in seiner jeweiligen Situation
von ihm erwartet. So befremdlich die Gleichgültigkeit und Gefühlskälte des
Erzählers anmutet, so erschreckend ist aber auch die von Gericht und
Staatsanwaltschaft verkörperte Mehrheitsgesellschaft, die Meursault weniger
aufgrund seiner Tat, als vielmehr aufgrund seiner Gesinnung verurteilt. Während
Meursault andere Menschen schlichtweg egal sind, ergeht sich die
Mehrheitsgesellschaft in moralischer Empörung und macht den Gerichtsprozess zu
einer Farce, in der die Verurteilung von der ersten Minute an feststeht. Lieber
ehrlicher Egoist oder gallespeiender Moralapostel? Beide wirken auf mich
gleichermaßen abstoßend.
Dieser kurze Roman ist
nach wie vor aktuell. Zeigt er doch einerseits wie schnell Gewalt aus bloßer
Gleichgültigkeit entstehen kann, und andererseits wie rasch man in bester Absicht
mit seiner moralischen Einstellung über das Ziel hinausschießen und wiederum Gewalt
ausüben kann.
Der Fremde, Albert Camus, aus dem Französischen von Uli
Aumüller, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1994, 160 Seiten, 9,00
EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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