Michèlle, genannt Michka, ist weit über achtzig. Sie war ihr
Leben lang berufstätig als Korrektorin in einem Verlag, lebte allein und kam
gut zurecht. Verheiratet war sie nie, Kinder hat sie nicht. Aber Marie besucht
Michka, hilft ihr, wenn es nötig ist, ist ihre Vertraute. Michka bekommt mehr
und mehr Angst, das Leben scheint ihr zu entgleiten. Schließlich kann sie nicht
mehr allein leben und geht in ein Seniorenheim. Es ist vor allem ihre Sprache,
die sie verliert. Sie ersetzt unbewusst Worte durch ähnlich klingende andere
Worte. Ausgerechnet sie, die jeden Tag „Le Monde“ liest und immer mit Wörtern
gearbeitet hat! Im Heim kommt der junge Logopäde Jérôme regelmäßig zu ihr, um ihre
Aphasie liebevoll zu behandeln.
Nach und nach erfahren wir, was Michka und Marie verbindet,
welche schlimmen, alten Erinnerungen Marie quälen, und was Michka in ihrem
Leben unbedingt noch erledigen muss, bevor sie sich vielleicht gar nicht mehr
verständigen kann. Michka muss jemanden suchen. Es gab da ein Ehepaar, das sie
jahrelang versteckt hat während des Krieges und ihr Leben gerettet hat. Sie kennt
aber nur deren Vornamen. Es ist Michka ungeheuer wichtig, sich endlich bei
ihnen dafür zu bedanken. Aber wie soll sie sie finden?
„Ich bin Logopäde. Ich arbeite mit den Wörtern und dem Schweigen. Dem Ungesagten. Ich arbeite mit der Scham, dem Geheimnis, der Reue. Ich arbeite mit dem Fehlenden, mit verschwundenen Erinnerungen und solchen, die durch einen Vornamen, ein Bild, einen Duft wieder geweckt werden. (…) Aber was mich immer noch erstaunt, was mich regelrecht verblüfft und mir – noch heute, nach mehr als zehn Jahren im Beruf – manchmal den Atem raubt, ist die Langlebigkeit von als Kind erlebtem Schmerz.“ (S. 110)
Marie unterstützt Michka nach Kräften. Mitfühlend begleitet
sie Michka auf dem Weg des Alterns, auf dem Michka jeden Tag mit neuen Einschränkungen
zu leben hat. Auch Jérôme ist gerührt von der alten Dame und den Erinnerungen,
die sie ihm viel lieber erzählt, als seine Übungen zu machen. Sowohl Michka als
auch Jérôme
erkennen durch sie, wie wichtig die Dankbarkeit ist und dass nicht ewig Zeit
ist, sie auszusprechen.
Delphine de Vigan ist wieder mal ein sehr sensibles Buch
gelungen. Der Leser fühlt mit Michka, dass Älterwerden kein Spaß ist und wie
man jeden Tag um Kleinigkeiten kämpfen muss, und sei es die Freiheit, sein Bett
unordentlich zu machen. Die Einsamkeit, die Alpträume blühen lässt, der Wunsch,
anderen nicht zur Last zu fallen, das alles erleben wir hautnah mit. Auch wenn
liebevolle Menschen sich um Michka kümmern. Die Vergangenheit wird nur
angedeutet. Spürbar wird sie im Verhältnis der Menschen zueinander, ihrer
Einstellung zum Leben. So kommt es, dass auf so wenigen Seiten so viel gesagt
wird. Kleine Gesten, die die Autorin beobachtet, der Ton einer Unterhaltung
oder ein Blick, der nach innen geht, sind die Erzählmittel. Leise und
wahrhaftig ist die Geschichte, sympathisch die Charaktere.
Ein bewegendes Buch
über das Älterwerden und die Dinge, die wichtig sind, um abschließen zu können.
Sehr berührend, manchmal auch erheiternd.
Dankbarkeiten, Delphine de Vigan, aus dem Französischen von Doris
Heinemann, DuMont Verlag, Köln 2020, 174 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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