Sung ist einer der vielen Ladenbesitzer am Prenzlauer Berg,
die vietnamesischer Abstammung sind. Seine Eltern waren zu DDR-Zeiten als
Vertragsarbeiter ins Land gekommen und konnten nach ihrer Entlassung im Zuge des
Mauerfalls einen Laden günstig übernehmen. Sie versorgen den ganzen Kiez mit
Waren des täglichen Bedarfs, von Gemüse über Schulhefte bis hin zum Nähzwirn.
Es gibt Ost- und Westware, und eben auch Dinge aus Vietnam. Der Laden, der
sieben Tage die Woche von früh bis spät geöffnet hat, ist natürlich auch
Nachbarschaftstreff.
Von dem Laden geht Energie aus, er verändert Menschen. Waren
Vietnamesen zuvor eine Art gesichtsloser Sammelbegriff, entsteht nach und nach
eine Bewegung. Alles beginnt mit einem Projekt der örtlichen Grundschule zur
Völkerverständigung, zu dem Sungs Sohn Minh ein „Kulturgut“ aus Vietnam
mitbringen soll. Da sowohl er als auch seine Eltern in Berlin geboren wurden
und nicht vietnamesisch sprechen, fragt Minh seine Großmutter Hiên um
Rat. Sie begleitet den Enkel in die Schule und erzählt mit der alten vietnamesischen
Holzpuppe Thủy,
die vom Wasserpuppentheater stammt, die Geschichte ihres Volkes.
„Thủy freut sich über den Frieden, denn Thủy hat den Krieg gesehen. Der Krieg hat ihr Land zerschnitten, ihr Zuhause – ritsch, ratsch!“Hiên zog das Seidentuch in der Taille der Puppe straff nach zwei Seiten. Die Holzpuppe schwankte. „Der Süden kämpft gegen den Norden, der Norden gegen den Süden.“Hiên schüttelte sorgenvoll den Kopf und ließ Thủy erzittern.„Die Leute im Süden denken, dass im Norden ein großes Gespenst den Menschen die Köpfe verdreht. Denn die Leute im Norden wollen auf einmal die Maschinen, an denen sie arbeiten, selbst besitzen, und den Acker, auf dem sie Gemüse und Reis anpflanzen, auch. (…) Und die Leute im Norden, finden, dass der Süden, der an Gespenster glaubt, selbst ein Hexenmeister ist, der die Reichen immer reicher macht und die Armen immer ärmer und mit diesem Hexen gar nicht mehr aufhören kann. (…) Also jagen sie ihn.“ (S. 21/22)
Diese Puppe hat es der Lehrerin angetan. Sie möchte solche
ausdrucksstarken, besonderen Puppen für ein Projekt benutzen, das Aufmerksamkeit
erregen soll. Aufmerksamkeit entsteht, aber nicht nur für diese Puppen, sondern
auch für andere Dinge, die nun in den vietnamesischen Läden gesucht werden.
Plötzlich möchte jeder sich mit einem nón lá, einem vietnamesischen Kegelhut,
vor der Berliner Sonne schützen. Die meergrüne Seide, aus der Hiêns
Kleid gemacht war, ist doch etwas so Besonderes, das auch andere Frauen sie haben
möchten. Aus den namenlosen Vietnamesen in ihren Eckläden, Nähstuben und
Tischlereien werden geschätzte Nachbarn, die beginnen, ihre Kultur mit den deutschen
Kiezbewohnern zu teilen. Man lernt sich kennen, lernt die Sprache des anderen -
Hiên
beherrscht nämlich beide sehr gut -, sogar ein Standesbeamter mit Hang zur
Schönschrift erlernt die Kunst, die vietnamesischen Namen vollständig mit allen
notwendigen Akzentzeichen auf die Heiratsurkunden zu schreiben.
Eine wahre Verbindung aber schaffen die „Affenbrücken“, die
plötzlich an den unmöglichsten Stellen Straßen und Plätze in
schwindelerregender Höhe überqueren. (Man sieht sie auf dem Buchcover.) Sie sind
aus Hanfseilen und Bambusrohr gebaut und sind längst wieder verschwunden, wenn
das Bauamt kommt, um das nicht genehmigte Bauwerk zu überprüfen.
In jedem Kapitel dieses erheiternden Buches erleben wir, wie
ein Mensch aufblüht, seine Bestimmung findet, seine Grenzen überwindet, aus
sich herausgeht. Ob dies realistisch ist, ist dabei nebensächlich, denn es könnte immerhin so sein. Dabei wird
keine rosarote Welt geschildert, sondern Menschen gezeigt, die den Krieg in
Vietnam, den Zusammenbruch der DDR und persönliche Schicksalsschläge erlebt
haben. Es kommt darauf an, offen für den anderen zu sein, etwas Neues
wahrzunehmen und seine Chancen im Kleinen zu ergreifen. Diese optimistische
Grundhaltung macht den Charme dieses Buches aus. Beim Lesen wird Neugier auf
vietnamesische Kultur geweckt, man kann die Nudelsuppe förmlich riechen, das Rascheln
der Seide spüren und den fremden Wohlklang der Sprache hören.
Ob dabei
Klischees bedient werden? Das ist möglich. Leider kenne ich mich mit
vietnamesischen Dingen nicht aus. Die Autorin ist jedoch studierte
Asienwissenschaftlerin und lebt derzeit in Ost-Berlin, so dass ihre Kenntnisse
die meinen deutlich übersteigen dürften. Es geht in diesem Buch aus meiner Sicht
aber nur am Rande um die Gesellschaftskritik am Umgang der DDR mit den Vertragsarbeitern
aus dem sozialistischen Bruderland. Es geht vielmehr darum, was möglich wird,
wenn wir einander offen begegnen und Anderssein als Vielfalt anstatt als Bedrohung
ansehen.
Ein Wohlfühlbuch voll
positiver Energie über Lebenslust, Initiative und menschliches Miteinander. Einfach
schön!
Sungs Laden, Karin Kalisa, Droemer Knaur Verlag, München
2017, 256 Seiten, 9,99 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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