Samstag, 8. Februar 2020

Sungs Laden, Karin Kalisa


Sung ist einer der vielen Ladenbesitzer am Prenzlauer Berg, die vietnamesischer Abstammung sind. Seine Eltern waren zu DDR-Zeiten als Vertragsarbeiter ins Land gekommen und konnten nach ihrer Entlassung im Zuge des Mauerfalls einen Laden günstig übernehmen. Sie versorgen den ganzen Kiez mit Waren des täglichen Bedarfs, von Gemüse über Schulhefte bis hin zum Nähzwirn. Es gibt Ost- und Westware, und eben auch Dinge aus Vietnam. Der Laden, der sieben Tage die Woche von früh bis spät geöffnet hat, ist natürlich auch Nachbarschaftstreff.

Von dem Laden geht Energie aus, er verändert Menschen. Waren Vietnamesen zuvor eine Art gesichtsloser Sammelbegriff, entsteht nach und nach eine Bewegung. Alles beginnt mit einem Projekt der örtlichen Grundschule zur Völkerverständigung, zu dem Sungs Sohn Minh ein „Kulturgut“ aus Vietnam mitbringen soll. Da sowohl er als auch seine Eltern in Berlin geboren wurden und nicht vietnamesisch sprechen, fragt Minh seine Großmutter Hiên um Rat. Sie begleitet den Enkel in die Schule und erzählt mit der alten vietnamesischen Holzpuppe Thy, die vom Wasserpuppentheater stammt, die Geschichte ihres Volkes.

„Thy freut sich über den Frieden, denn Thy hat den Krieg gesehen. Der Krieg hat ihr Land zerschnitten, ihr Zuhause – ritsch, ratsch!“
Hiên zog das Seidentuch in der Taille der Puppe straff nach zwei Seiten. Die Holzpuppe schwankte. „Der Süden kämpft gegen den Norden, der Norden gegen den Süden.“
Hiên schüttelte sorgenvoll den Kopf und ließ Thy erzittern.
„Die Leute im Süden denken, dass im Norden ein großes Gespenst den Menschen die Köpfe verdreht. Denn die Leute im Norden wollen auf einmal die Maschinen, an denen sie arbeiten, selbst besitzen, und den Acker, auf dem sie Gemüse und Reis anpflanzen, auch. (…) Und die Leute im Norden, finden, dass der Süden, der an Gespenster glaubt, selbst ein Hexenmeister ist, der die Reichen immer reicher macht und die Armen immer ärmer und mit diesem Hexen gar nicht mehr aufhören kann. (…) Also jagen sie ihn.“ (S. 21/22)

Diese Puppe hat es der Lehrerin angetan. Sie möchte solche ausdrucksstarken, besonderen Puppen für ein Projekt benutzen, das Aufmerksamkeit erregen soll. Aufmerksamkeit entsteht, aber nicht nur für diese Puppen, sondern auch für andere Dinge, die nun in den vietnamesischen Läden gesucht werden. Plötzlich möchte jeder sich mit einem nón lá, einem vietnamesischen Kegelhut, vor der Berliner Sonne schützen. Die meergrüne Seide, aus der Hiêns Kleid gemacht war, ist doch etwas so Besonderes, das auch andere Frauen sie haben möchten. Aus den namenlosen Vietnamesen in ihren Eckläden, Nähstuben und Tischlereien werden geschätzte Nachbarn, die beginnen, ihre Kultur mit den deutschen Kiezbewohnern zu teilen. Man lernt sich kennen, lernt die Sprache des anderen - Hiên beherrscht nämlich beide sehr gut -, sogar ein Standesbeamter mit Hang zur Schönschrift erlernt die Kunst, die vietnamesischen Namen vollständig mit allen notwendigen Akzentzeichen auf die Heiratsurkunden zu schreiben.

Eine wahre Verbindung aber schaffen die „Affenbrücken“, die plötzlich an den unmöglichsten Stellen Straßen und Plätze in schwindelerregender Höhe überqueren. (Man sieht sie auf dem Buchcover.) Sie sind aus Hanfseilen und Bambusrohr gebaut und sind längst wieder verschwunden, wenn das Bauamt kommt, um das nicht genehmigte Bauwerk zu überprüfen.

In jedem Kapitel dieses erheiternden Buches erleben wir, wie ein Mensch aufblüht, seine Bestimmung findet, seine Grenzen überwindet, aus sich herausgeht. Ob dies realistisch ist, ist dabei nebensächlich, denn es könnte immerhin so sein. Dabei wird keine rosarote Welt geschildert, sondern Menschen gezeigt, die den Krieg in Vietnam, den Zusammenbruch der DDR und persönliche Schicksalsschläge erlebt haben. Es kommt darauf an, offen für den anderen zu sein, etwas Neues wahrzunehmen und seine Chancen im Kleinen zu ergreifen. Diese optimistische Grundhaltung macht den Charme dieses Buches aus. Beim Lesen wird Neugier auf vietnamesische Kultur geweckt, man kann die Nudelsuppe förmlich riechen, das Rascheln der Seide spüren und den fremden Wohlklang der Sprache hören.

Ob dabei Klischees bedient werden? Das ist möglich. Leider kenne ich mich mit vietnamesischen Dingen nicht aus. Die Autorin ist jedoch studierte Asienwissenschaftlerin und lebt derzeit in Ost-Berlin, so dass ihre Kenntnisse die meinen deutlich übersteigen dürften. Es geht in diesem Buch aus meiner Sicht aber nur am Rande um die Gesellschaftskritik am Umgang der DDR mit den Vertragsarbeitern aus dem sozialistischen Bruderland. Es geht vielmehr darum, was möglich wird, wenn wir einander offen begegnen und Anderssein als Vielfalt anstatt als Bedrohung ansehen.

Ein Wohlfühlbuch voll positiver Energie über Lebenslust, Initiative und menschliches Miteinander. Einfach schön!

Sungs Laden, Karin Kalisa, Droemer Knaur Verlag, München 2017, 256 Seiten, 9,99 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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