Kira erzählt in diesem Buch ihre Familiengeschichte. Sie
trägt selbst von denen, die sie nie kennengelernt hat, Herkunft, Geschichte,
Vertreibung und Trauma in sich. Kiras innere Zerrissenheit ist so groß, dass
sie oft nicht weiß, wo sie beginnt und wo sie endet. Sie muss sich selbst
verletzen, um sich zu spüren. Sie versucht ihre Familie in ihren Bildern darzustellen,
so wie sie sie erlebt hat oder sie sich vorstellt. Aber das ist schwierig, denn
die Geschichte ist nicht stringent, hat keinen Anfang und kein Ende. „Chronologie
ist erfunden, es gibt keine. Sie ist eine Lüge, wie alle Systeme.“ (S. 215)
Kiras Erzählung springt wild hin und her zwischen Teilen
ihrer eigenen, erlebten Vergangenheit und der Vergangenheit ihrer Vorfahren. Die
jeweilige Kapitelüberschrift weist den Leser auf Zeit und Ort hin. Das ist
verwirrend, nicht nur für den Leser, sondern drückt die Verwirrung in Kira aus.
Ihr tägliches Erleben von Sinnlosigkeit und Depression ist eine Mischung von Realität,
Erinnerung und Albtraum, sowohl im Wachen als auch im Schlaf. Dies schildert
sie in einer drastischen, sehr eigentümlichen Sprache. Ihr Erleben ist sehr
körperlich, wenn dabei auch oft unklar bleibt, ob es sich dabei um ihren
eigenen Körper handelt.
„Spaziergänge sind dämlich, denke ich mir, aber dadurch, dass ich in einer inneren Explosion lebe, kann ich nur sehr schwer still dasitzen oder an gar nichts denken. Und es gibt so viel Zeit im Leben. Ich muss immer in irgendeiner Bewegung sein, sonst fressen mich die Gedanken von innen auf. Ich weiß gar nicht, wie ich es schaffe, nachts zu schlafen, ein natürlicher Reflex wahrscheinlich, immerhin, sonst würde ich auch nachts diesen unerträglichen Wurm, der sich kreuz und quer durch meinen Körper windet und keinen Ausgang findet, in mir spüren. Er wütet und nagt und saugt sich fest an Eingeweiden und behauptet, er suche nach irgendeinem Sinn, und ich habe ihm schon öfters erklärt, dass er nicht weiterkommen wird, solange er in meinem Inneren bleibt.“ (S. 37)
Marina Frenk, die wie die Protagonistin ihres Debütromans
als Kind Anfang der 90er Jahre aus Moldawien nach Deutschland kam, hat ein ungewöhnliches Werk über
die Einsamkeit geschaffen, die Art Einsamkeit, die wir auch in Gegenwart uns
nahestehender Menschen empfinden können. Sie zeigt mit ihrer verstörenden,
direkten Sprache die Verstrickungen, die uns mitgegeben sind, die wir entwirren
und verstehen müssen, um darin uns selbst zu finden.
Ein beeindruckendes
Buch, das mich etwas verstört zurücklässt. Ein Stück dieser bedrückenden Verstrickung
wird jeder von uns in sich tragen, dessen Vorfahren die Weltkriege erlebt
haben. Es wäre gut, wenn wir mehr darüber sprechen könnten.
Ewig her und gar nicht wahr, Marina Frenk, Verlag Klaus
Wagenbach, Berlin 2020, 240 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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