Samstag, 22. Februar 2020

Der Report der Magd, Margaret Atwood


Endlich habe ich sie auch gelesen, diese Legende von einem Buch! Ich schaue mir keine Serien auf Netflix an, deshalb habe ich die filmische Fassung nie gesehen. Ich werde sie mir auch nicht ansehen, denn nichts kann besser sein als dieses wahnsinnige Buch, das ich in zwei Tagen verschlungen habe. Ein Pageturner!

„The Handmaid`s Tale“ ist erstmalig 1985 erschienen. Es hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die Geschichte spielt in Gilead, einem fiktiven, totalitären Staat auf einem Teilgebiet der USA. Sicher nicht zufällig ist das Territorium angesiedelt im sog. Bible Belt, den Südstaaten, in denen konservative, evangelikale Christen dominieren. Gilead ist ein Gottesstaat, der sich auf die Bibel beruft, die aber nicht alle selbst lesen dürfen. So wird der biblische Inhalt von der Obrigkeit unbemerkt zurechtgedreht und passend gemacht.

Die Geschichte wird von einer Magd erzählt, die wir unter dem Namen Desfred kennenlernen. Dies ist aber nicht ihr wirklicher Name. Wie alle Mägde wird sie nach dem Mann genannt, dem sie gerade zu dienen hat. Die Erzählerin ist also die Magd des Fred. Mägde sind fruchtbare Frauen im gebärfähigen Alter, von denen es nicht viele gibt. Sie werden einem mächtigen Mann zugeteilt, dem sie ein Kind gebären sollen. Sie sind erkennbar an ihren roten Kleidern und weißen Hauben.

Die patriarchale Gesellschaft hat starre Regeln und Rollenmuster für alle. Ehefrauen sind in blau gekleidet, Dienstmädchen, Marthas genannt, haben sich grün zu kleiden. Natürlich gibt es einen Geheimdienst („die Augen“) und Polizei („die Wächter“). Sie sorgen u.a. dafür, dass niemand das Land verlassen kann. Besonders wichtig sind aber auch „die Tanten“. Dies sind unverheiratete Frauen, die andere Frauen anleiten und überwachen. Dies ist die machtvollste Position, die eine Frau erreichen kann.

„Janine ist an der Reihe. Sie erzählt, wie sie mit vierzehn hintereinander von einer ganzen Gruppe von Jungen vergewaltigt wurde und eine Abtreibung hatte. (…)
Aber wessen Schuld war das?, fragte Tante Helena und streckte einen dicken Zeigefinger in die Höhe.
Ihre eigene, ihre eigene, ihre eigene, rufen wir im Chor.
Wer hat sie verführt? Tante Helena strahlt – sie ist mit uns zufrieden.
Sie war es. Sie war es. Sie war es.
Warum hat Gott so etwas Schreckliches zugelassen?
Damit sie etwas daraus lernt. Damit sie etwas daraus lernt. Damit sie etwas daraus lernt.“ (S. 101)

Was das Buch so spannend macht, ist die recht unwissende Perspektive der Erzählerin Desfred. Sie beschreibt ihr Leben als Magd. Sie durchschaut aber nicht alle Hintergründe des Systems. Auch der Leser erkennt nur häppchenweise, in welcher Situation sie sich befindet und woher sie kommt. Es ist den Frauen verboten zu lesen, miteinander zu sprechen oder Freundschaften zu schließen. Man isoliert sie, um sie unwissend zu halten. Mägde sind Gebärmaschinen, die ausschließlich auf diese körperliche Funktion reduziert und gehalten werden wie Zuchtstuten. Auch die Kenntnis über den eigenen weiblichen Körper ist begrenzt.

Desfred bemerkt im Haus des Kommandanten Fred, dass nicht alles in der Praxis so läuft, „wie es sich gehört“. Wie in jeder Diktatur gibt es die offiziellen Regeln und die, die es sich erlauben können, sie zu übertreten. Wer im System Karriere macht, erlangt Privilegien. Diese führen dazu, dass die weitgehend rechtlosen Frauen sich gegenseitig bespitzeln und das System stützen, das sie unterdrückt. (Dies erinnert mich sehr an weibliche KZ-Aufseherinnen.) Natürlich gibt es auch eine Widerstandsbewegung im Untergrund, obwohl Kritiker regelmäßig exekutiert oder als Zwangsarbeiter in „Kolonien“ gebracht werden. Ein Austausch untereinander ist kaum möglich, so dass Desfred nicht weiß, was „normal“ ist und wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten soll. Sie weiß, dass jede Unregelmäßigkeit ihr angelastet werden wird und zu ihrem Tod führen kann.

Margaret Atwood versteht es hervorragend, dieses hilflose Ausgeliefertsein spürbar zu machen. Zudem ist Desfred eine Frau, die sich noch an das Leben vor Entstehung des Staates Gilead erinnern kann. Nach und nach berichtet sie in der Rückblende, wie die Diktatur errichtet wurde. Desfred ist eine gebildete Frau, die durch die Situation aber gezwungen ist, ihre Erinnerungen und Erkenntnisse der Unmenschlichkeit in sich verschlossen zu halten, um zu überleben. Die Schilderung dieses Umbruchs erscheint so real, dass ich mir beim Lesen überlegt habe, wie ich vor so einer Situation fliehen könnte, sollte sie jemals eintreten. Insbesondere nach der Wahl Donald Trumps scheint nichts mehr unmöglich zu sein in Sachen Frauenverachtung, Kumpanei und Negierung der Fakten. Es scheint, dass Margaret Atwood dies bereits über 30 Jahre vorausgeahnt hat.

Ich bin sehr beeindruckt von diesem Buch! Es ist eine ungeheuer spannende Geschichte, die aber gleichzeitig in erschreckend realistischer Weise die Funktionsweise einer Diktatur beschreibt. Die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Gewaltregimes funktioniert immer und überall nach den gleichen Regeln. Dabei ist es bedeutungslos, ob und welche Religion als Rechtfertigungsgrundlage benutzt, oder ob dazu ein politisch-ökonomisches Konzept wie Kommunismus, Faschismus o.ä. herangezogen wird. Im Staat Gilead sind Elemente aller dieser Konzepte anzutreffen, neben dem fundamentalistischen Christentum auch Elemente des Faschismus (Rassenlehre) und des Kommunismus (alle sind innerhalb ihrer gesellschaftlichen Gruppe gleich und uniformiert). Es ist weitsichtige Gesellschaftskritik, die literarisch hervorragend verpackt ist. Vieles wird nur angedeutet und erst im Laufe der Geschichte verständlich, wenn der Leser es als Muster erkennt. Nichts wird plakativ ausbuchstabiert. Wohlverdient ist die kanadische Autorin 2017 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden.

Ein fabelhaftes Stück Literatur, das zu Recht ein Klassiker ist. Es war noch nie so nötig wie heute, dieses Buch zu lesen und Gilead entgegenzutreten. Gilead kann überall entstehen.

Der Report der Magd, Margaret Atwood, aus dem kanadischen Englisch von Helga Pfetsch, Piper Verlag, München 2017, 416 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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