Kann man ein Kinderbuch zum Thema Zensur und
Meinungsfreiheit schreiben, das dennoch leicht, spannend und lustig daherkommt?
Alan Gratz kann! Dazu beruht das Buch auf wahren Umständen bzw. Missständen in
den USA (und anderswo), auf die der Autor aufmerksam machen möchte.
Amy ist 9 Jahre alt und geht in die 4. Klasse der
Grundschule. Sie ist ein Bücherwurm und eher zurückhaltend. Leider ist es
schwer für Amy einen ruhigen Platz zum Lesen zu finden, da sie zwei kleinere
Schwestern hat. Deshalb ist die Schulbibliothek ihr Lieblingsort, an den sie
sich gern zurückzieht. Eines Tages möchte Amy dort ihr Lieblingsbuch zum
wiederholten Male ausleihen, als es plötzlich nicht mehr im Regal steht. Die nette
Bibliothekarin erklärt Amy, dass der Schulausschuss das Buch „verbannt“ habe.
Eine Mutter, die Mitglied des Ausschusses ist, findet das Buch „ungeeignet“ für
Schulkinder, da die Hauptperson im Buch lügt und von zuhause wegläuft. Das
könnten andere Kinder dann vielleicht nachmachen, meint die Mutter. Amy ist
empört! Außerdem wurden auf die gleiche Weise viele andere Bücher aus der
Bibliothek entfernt, so dass die Kinder sie nicht mehr lesen können. Und das
obwohl die Bibliothekarin dagegen war.
„Ich fühlte mich, als würde sich der Teppich unter meinen Füßen in Treibsand verwandeln. Und ich sank ziemlich schnell. Ich hielt mich an den Bücherregalen fest, um nicht umzukippen. „Aber … das Buch ist nicht ungeeignet! Es ist sehr geeignet! Es ist ein tolles Buch! Es ist mein Lieblingsbuch!“„Ich weiß, Liebes. Ich bin deiner Meinung. (…)“Ich konnte nur nicken. Mir war nach Weinen zumute, was dumm war. Es fühlte sich an, als wäre jemand in mein Zimmer gekommen und hätte, ohne zu fragen, alle meine Sachen mitgenommen.“ (S. 12)
Amys Interesse ist geweckt. Was stimmt nicht mit all diesen
Büchern? Sie besorgt sich nach und nach Exemplare der verbannten Bücher
und liest sie nun erst recht. Ihren Freunden Rebecca und Danny leiht sie die
Bücher, die nun ebenfalls wissen wollen, was es damit auf sich hat. Plötzlich
haben auch andere Kinder aus Amys Klasse Interesse an diesen Büchern oder
vermissen ihr jeweiliges Lieblingsbuch. Da hat Amy eine Idee. Davon darf allerdings
die Direktorin der Schule nichts mitbekommen. Amy und ihre beiden Freunde bauen
eine geheime Bibliothek auf. Ob das lange gut geht? Außerdem überlegen sie, ob
man nicht den Schulausschuss davon überzeugen könnte, dass die Bücher gar keine
Gefahr für Kinder sind. Leider traut sich Amy nicht Erwachsenen Widerworte zu
geben und sich für ihre Meinung stark zu machen.
In diesem äußerst pfiffigen Buch mit vielen liebenswerten
Charakteren wird die Freude am Lesen gefeiert, aber auch die Bedeutung der
Freiheit sich seinen Lesestoff selbst auszusuchen. Es ist Teil der Meinungsfreiheit
ein Buch gut oder schlecht zu finden. Die Bedeutung des freien Zugangs zu
Bibliotheken wird ebenso thematisiert wie die Konsequenzen für den einzelnen,
der seine (unbequeme) Meinung offen äußert. Nach und nach fasst Amy mehr Mut
und merkt, dass Erwachsene nicht immer rechthaben. Sie lernt für sich
einzutreten, auch innerhalb ihrer Familie. Sie findet mit ihren Freunden eine
geniale und überraschende Strategie.
Hintergrund der Geschichte ist, dass in den USA Bücher, die
uns unproblematisch erscheinen mögen, tatsächlich aus vielen Bibliotheken
entfernt werden, etwa aus religiösen Erwägungen, weil sie von Hexen und
Zauberei oder übernatürlichen Dingen handeln. Das bedeutet, dass z.B. die Harry
Potter-Serie in vielen Bibliotheken dort fehlt. In vielen Diktaturen werden
Bücher aus politischen Gründen nicht zugelassen oder nur Büchern aus bestimmten
Ländern erlaubt, nicht aber aus pluralistischen Ländern. Auch in Deutschland
gibt es eine Form von Zensur. So ist etwa Hitlers „Mein Kampf“ nicht frei verkäuflich
oder in Bibliotheken ausleihbar. Gleiches gilt für Bücher über den Bau von
Bomben oder pornographische Literatur, die selbst in der Deutschen
Nationalbibliothek nur zu wissenschaftlichen Zwecken (mit entsprechendem
Nachweis) eingesehen werden dürfen. Das Buch zeigt auf, dass die Grenze
zwischen willkürlichem Verbot und gerechtfertigtem Schutzbedürfnis fließend ist
und oft im Auge des Beschauers liegt.
Ein phantastisches
Buch, das viel Spaß macht und sehr zum Nachdenken anregt. Kann mal jemand einen
Roman zu diesem Thema für Erwachsene schreiben? Einstweilen können alle Erwachsenen
dieses hier lesen.
Amy und die geheime Bibliothek, Alan Gratz, aus dem
Englischen von Meritxell Janina Piel, Carl Hanser Verlag, München 2019, 248
Seiten, 15,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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