Samstag, 29. Februar 2020

Die Buchhandlung der Wünsche, Shinsuke Yoshitake

Schockverliebt! Das bin ich in diese phantastische Graphic Novel! Wie Ihr wisst, liebe ich Bücher über Bücher und Buchmenschen. In der Regel lese ich solche Bücher und fühle mich verstanden. Da tickt jemand so wie ich. Dieses Buch aber geht weit darüber hinaus, was ich mir an schönen Dingen bisher vorgestellt habe. Deshalb macht es mich so glücklich.

„Die Buchhandlung der Wünsche – Für alle, denen Bücher die Welt bedeuten“ zeigt uns in wunderschönen comicartigen Zeichnungen den perfekten Buchladen. Das Besondere ist, dass das Geschäft nur Bücher über Bücher im Angebot hat. Wir begegnen im Buch verschiedenen Kundinnen und Kunden, die alle von dem freundlichen Buchhändler mit der Halbglatze und dem Schnauzer bedient werden.
„Wenn du den Buchhändler fragst: „Ich wünsche mir Bücher über… Haben Sie welche?“
Dann sagt er immer: „Und ob“ Die haben wir!“, und zaubert sie aus dem hintersten Winkel hervor.“ (S. 3)
Am Anfang des Buches steht ein wunderschönes Bücherregal, das die schönsten Bücher zu ausgewählten Themen enthält, eine Art gemaltes Inhaltsverzeichnis. Schon bei dessen Betrachtung wollte ich alle diese Bücher unbedingt lesen, und zwar sofort! Sodann wird jedes der abgebildeten Bücher einzeln vorgestellt.

In der Rubrik „Richtig seltene Bücher“ gibt es z.B. den Titel „Bücherbaumzüchten für Anfänger“, aus dem man lernen kann, wie man aus einem Samenkorn, den man zwischen Buchseiten legt, einen Baum züchtet, der dann Bücher als Früchte trägt. Ist das nicht wunderbar? In der gleichen Kategorie gibt es „Das Buch-Buch – Bücher für gemeinsames Lesevergnügen“. Derartige Bücher werden in zwei bis drei Teilen geliefert. Sie sind waagerecht in Teile geschnitten, so dass man sie nur lesen kann, wenn man die Teile übereinander hält und gleichzeitig umblättert. Man kann sie also nur gemeinsam lesen.

Besonders bezaubert hat mich das „Bücherzubehör“. Ich muss unbedingt den „Kleinen Leserobo“ haben! Weiß vielleicht jemand, wo man den kaufen kann? Er ist wirklich vielseitig benutzbar!
„Er sorgt für Ruhe in lauter Umgebung. - Er feuert dich an. (He, du hast schon so viele Seiten gelesen! Du bist fast fertig!) – Er warnt dich, wenn es zu dunkel wird. – Er weckt dich, wenn du einschläfst. – Er tauscht sich mit dir über das Buch aus. – Er dient dir als Lesezeichen.“ (S. 17/18)
Im Regal über „Buchberufe“ stehen Titel wie „Buchhändler-Bootcamp für Fortgeschrittene“ oder „Bücherhunde“. Unverzichtbar ist das Thema „Buchveranstaltungen“, dem ein ganzes Regal gewidmet ist. Könnte eine nahegelegen Buchhandlung bitte den Band „Hochzeit in der Buchhandlung“ in die Tat umsetzen?

Lesenswert sind sicher auch die Titel über „Bücherorte“, etwa über „Das Dorf der regnenden Bücher“ (Ist jemand schon einmal dort gewesen?) oder „Der Büchergrabstein“ (sehr originelle Möglichkeit, um Buchnachlässe sinnvoll zu nutzen).

Habt Ihr Euch schon mal gefragt, „Warum Bücher rechteckig sind“? Nein? Lest das gleichnamige Buch, dann wisst Ihr Bescheid. „Wo kommen die Bücher her?“ ist ein ebenso unverzichtbares Buch wie „Wo gehen die Bücher hin?“ (Nach der Trennung der Bücher in ihre ursprünglichen Teile werden die Geschichten in verschiedene Emotionen zerlegt, die u.a. in der Luft verstreut werden. Man will ja nichts wegwerfen.)

Nur ein einziges Buch kann auch der beste Buchhändler nicht besorgen. Welches das ist? Schaut auf Seite 101 nach.

Die Zeichnungen des Japaners Shinsuke Yoshitake sind phantasievoll, witzig und warmherzig. Das Buch ist voller kleiner gezeichneter Details, die einfach Freude machen. Das Hardcoverbuch ist wunderschön gestaltet, hat ein Lesebändchen und hervorragendes Papier. Das Einbandknacken und der Geruch haben mir ein tolles Leseerlebnis beschert. Der Autor ist mehrfach preisgekrönt für seine im gleichen Stil gezeichneten Kinderbücher.

Dieses Buch ist ein Seeligkeitsding! Es ist das Schönste in meiner Sammlung von Büchern über Bücher!

Die Buchhandlung der Wünsche, Shinsuke Yoshitake, Deutsch von Silvia Chiarini und Nicole List, Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2020, 104 Seiten, 15,00 EUR

(Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Mittwoch, 26. Februar 2020

Muldental, Daniela Krien


Daniela Krien hatte in letzter Zeit großen Erfolg mit ihren Romanen. Nun hat der Diogenes Verlag einen Band ihrer Kurzgeschichten neu aufgelegt, der bereits 2014 in einem anderen Verlag erschienen war. Die Ausgabe ist überarbeitet und enthält eine zusätzliche Geschichte. Insgesamt sind elf Kurzgeschichten in dem Band versammelt.

Im Vorwort berichtet die Autorin, wie die Ideen für die Geschichten entstanden sind. Sie hat Schicksale gesammelt, z.B. aus der Zeitung und in einem Satz zusammengefasst, etwa „Überschuldeter Handwerker begeht Selbstmord“. (S. 9)

Daniela Krien wurde 1975 in Mecklenburg-Vorpommern geboren und lebt heute in Leipzig, wo sie auch studiert hat. Alle Erzählungen des vorliegenden Bandes spielen in einem kleinen Ort im Muldental in Sachsen. Die Autorin beschreibt darin die Lebensbrüche der Menschen dort, die durch den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung entstanden sind. Eine Erfahrung, welche die Autorin sicher auch selbst gemacht hat.

„Auch diese beiden haben ein erstes und ein zweites Leben. Vor und nach dem Mauerfall, vor und nach der Wende, vor und nach der friedlichen Revolution – egal, wie sie es nennen, die Bruchstelle ist für alle dieselbe.“ (Muldental II, S. 220)

Daniela Krien beschreibt, aus welchem Leben in der DDR die Menschen kamen und in welche Situation sie Jahre später gelangt sind, wie sie zu denen wurden, die sie jetzt sind. Es sind gewöhnliche Menschen, Männer und Frauen, wie jeder von uns sie aus der Nachbarschaft kennt, Arbeiter und Akademiker. Manche schaffen es, die Krise des Systemwechsels zu überwinden, andere schaffen es nicht. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen, doch haben einige der Hauptpersonen Beziehungen untereinander, sind zusammen im gleichen Dorf aufgewachsen, so dass sich eine Art Nach-Wende-Panorama ergibt.

Sehr beeindruckend fand ich die Erzählung „Muldental“ (S. 11 ff), in der ein Mann nach der Wende erfahren hat, dass seine Ehefrau jahrelang für die Stasi gearbeitet hat, nachdem sie extrem unter Druck gesetzt worden war. Das familiäre Zusammenleben mit diesem Wissen wird unerträglich.

Mehrere der Geschichten drehen sich um die Auflösung der DDR-Betriebe und die nachfolgende Arbeitslosigkeit. Wo soll das Geld herkommen? Wie soll man den Kindern etwas bieten? Die individuellen Lösungen sind unterschiedlich und teilweise erschütternd.

Bedrückend ist die Erzählung „Mimikry“ (S. 30 ff), die vom „Rassismus“ gegen Ostdeutsche handelt. Dankbar sollen sie sein, dass sie im Westen eine Arbeit finden und der Staat ihnen ihr heruntergewirtschaftetes Land wiederaufbaut. Aber „anders“ sind sie, finden die Wessis. Die will man nicht überall dabeihaben. Die sächsische Mundart fällt auf im Westen. Die Menschen werden durch Vorurteile definiert. Wie bitter ist das!

„Er war die Summe seiner Brüche, doch nicht zerbrechlich. Sein Blick auf die Dinge war nüchtern. Er kannte das Land der großen Gleichheitsutopie, dessen Bürger zum Bleiben gezwungen worden waren; und er kannte das Land, das seinen Bürgern einredete, frei zu sein, nur weil es keine Mauern gab. In dem untergegangenen System waren die Lügen so plump gewesen, dass jeder sie erkannte, in dem neuen dagegen glich die Illusion der Wirklichkeit aufs Haar.“ (Muldental II, S. 210)

Daniela Krien schreibt einfühlsam über das Schicksal und die Gefühle ihrer Personen, so dass wir ihnen ganz nahekommen können. Jeder Leser wird eins der beschriebenen Schicksale schon einmal gesehen haben, sie sind exemplarisch. Mir wurde das Privileg bewusst, im Westen geboren worden zu sein, so dass mir dieser Bruch – der manchen zerbrach - erspart geblieben ist. Natürlich wusste ich, dass es Menschen so gegangen ist, wie es hier beschrieben wird. Aber mitgefühlt habe ich es vorher noch nie so intensiv. Ich schäme mich ein bisschen für meine emotionale Unwissenheit.

Die Wende hat Lebensläufe gebrochen, manchmal zerbrochen. Diese Realität wirkt auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung fort. Es ist wichtig sich damit zu beschäftigen, gerade für Menschen, die den Alltag in der DDR und der Anfangszeit der neuen Bundesländer nicht selbst erlebt haben. Dieses Buch ist dazu sehr gut geeignet.

Muldental, Daniela Krien, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 240 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

Montag, 24. Februar 2020

Die Zeuginnen, Margaret Atwood


Gleich nachdem ich „Der Report der Magd“ beendet hatte (vgl. meine Rezension), musste ich die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ lesen. Ich war einfach zu gespannt darauf, was aus den Personen geworden ist. Genau das ist auch der Grund, warum Margaret Atwood über 30 Jahre nach dem ersten Teil überhaupt eine Fortsetzung geschrieben hat – die Leserinnen und Leser haben ihr so viele Fragen zum weiteren Fortgang der Geschichte gestellt, dass sie sich davon inspirieren ließ. So beschreibt sie es in der Danksagung am Schluss des Buches (S. 569). Ich bin auch vom zweiten Teil begeistert! Damit stehe ich nicht allein. Margaret Atwood hat 2019 für diesen Roman den Booker Prize gewonnen.

Obwohl mehrere Jahrzehnte vergangen sind, bevor die Autorin den zweiten Roman schrieb, schließen die beiden Teile in bemerkenswerter Weise an einander an. Es gibt keinen Bruch im Stil, wenn auch die Darstellung der Geschichte nun eine andere ist. Im „Report der Magd“ wird die ganze Geschichte von Desfred erzählt. „Die Zeuginnen“ sind tatsächlich mehrere Frauen, die in Form einer Zeugenaussage erzählen. Eine der Erzählerinnen ist Tante Lydia, die eine große Rolle als „Gründerin“ im ersten Teil spielte. Gründerin wovon? Sie berichtet uns, welche Rolle sie in der Entstehungszeit des Staates Gilead hatte. Inhaltlich spielt die Geschichte etwa 15 Jahre nach dem Ende von „Der Report der Magd“. Die anderen beiden Erzählerinnen sind zwei junge Frauen. Eine davon berichtet in ihrer Aussage davon, wie es sich anfühlte in Gilead aufzuwachsen.

Während Desfred im ersten Teil beschreibt, wie es war in Gilead als Magd zu leben und die Auswirkungen des totalitären Systems zu spüren, es aber nicht zu durchschauen, bekommen wir nun Informationen über die wahren Machtstrukturen des Staates. Bereits aus dem ersten Teil wissen wir, dass die Tanten einen großen Anteil an der (Um-)Erziehung und Überwachung anderer Frauen hatten. Nutznießer des patriarchalen Systems schienen jedoch weitgehend Männer zu sein. Die Rolle der Tanten wird nun weiter ausgeleuchtet. Wer welche Strippen im Hintergrund gezogen hat und aus welcher Motivation heraus, erzählt uns Tante Lydia. Auf die Rolle der Frauen wird ein neues Licht geworfen.

„Wir glauben, dass ihr mit euren hohen Qualifikationen geeignet seid, mit uns gemeinsam das beklagenswerte Los der Frau zu verbessern, das durch die dekadente und korrupte Gesellschaftsform verursacht wurde, die wir gerade abschaffen.“ Er hielt inne. „Wollt ihr uns helfen?“ Diesmal entschied sich der ausgestreckte Finger für Helena.
„Ja, Kommandant Judd“, sagte sie kaum hörbar.
„Gut, Ihr seid intelligente Frauen. Aufgrund eurer vorhergehenden …“ Er wollte das Wort Berufe vermeiden. „Aufgrund eurer vorhergehenden Erfahrungen seid ihr vertraut mit dem Leben von Frauen. Ihr wisst, wie sie am ehesten denken, oder lasst es mich anders formulieren – wie sie am ehesten auf bestimmte Reize reagieren, sowohl positive als auch negative Reize. Insofern könnt ihr uns gute Dienste leisten – Dienste, die euch gewisse Vorteile sichern werden.“ (S. 244)

Hauptthema der „Zeuginnen“ ist der Widerstand gegen das totalitäre Regime von Gilead, sowohl im Land selbst als auch vom Ausland aus. Wie in jeder Diktatur organisieren sich Menschen im Geheimen, es gibt Spione und „Maulwürfe“, Kuriere und Schlepper auf beiden Seiten der Grenze. Menschen versuchen aus der Diktatur zu fliehen oder sie zu Fall zu bringen. Und wie überall gibt es auch Doppelagenten, die diese Geschichte besonders spannend machen.

Erneut gelingt es Margaret Atwood die universelle Wirkweise von Diktatur und Terror deutlich zu machen. Die Intellektuellen und Gebildeten der vorherigen Gesellschaft sind die ersten, die entweder gehen oder eingebunden, jedenfalls mundtot gemacht werden müssen, um ein totalitäres Regime zu errichten. Folgende Grundregel des Romans benennt die Autorin: „Es dürfen nur Geschehnisse vorkommen, die es in der Geschichte der Menschheit schon gegeben hat.“ (S. 570) Diese Regel macht die erschreckende Realitätsnähe des Buches aus. Reizvoll sind die ständigen Perspektivwechsel der erzählenden Personen. Der Leser ist emotional dicht dran an den Charakteren, sie sind lebensecht. Ihr Schicksal hat mich mitgenommen.

Ein gelungener Nachfolger des Klassikers „Der Report der Magd“. Ein wichtiges, spannendes Buch, das Spaß beim Lesen macht und nebenbei sehr lehrreich ist. Bin begeistert!

Die Zeuginnen, Margaret Atwood, aus dem Englischen von Monika Baark, Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2019, 576 Seiten, 25,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Samstag, 22. Februar 2020

Der Report der Magd, Margaret Atwood


Endlich habe ich sie auch gelesen, diese Legende von einem Buch! Ich schaue mir keine Serien auf Netflix an, deshalb habe ich die filmische Fassung nie gesehen. Ich werde sie mir auch nicht ansehen, denn nichts kann besser sein als dieses wahnsinnige Buch, das ich in zwei Tagen verschlungen habe. Ein Pageturner!

„The Handmaid`s Tale“ ist erstmalig 1985 erschienen. Es hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die Geschichte spielt in Gilead, einem fiktiven, totalitären Staat auf einem Teilgebiet der USA. Sicher nicht zufällig ist das Territorium angesiedelt im sog. Bible Belt, den Südstaaten, in denen konservative, evangelikale Christen dominieren. Gilead ist ein Gottesstaat, der sich auf die Bibel beruft, die aber nicht alle selbst lesen dürfen. So wird der biblische Inhalt von der Obrigkeit unbemerkt zurechtgedreht und passend gemacht.

Die Geschichte wird von einer Magd erzählt, die wir unter dem Namen Desfred kennenlernen. Dies ist aber nicht ihr wirklicher Name. Wie alle Mägde wird sie nach dem Mann genannt, dem sie gerade zu dienen hat. Die Erzählerin ist also die Magd des Fred. Mägde sind fruchtbare Frauen im gebärfähigen Alter, von denen es nicht viele gibt. Sie werden einem mächtigen Mann zugeteilt, dem sie ein Kind gebären sollen. Sie sind erkennbar an ihren roten Kleidern und weißen Hauben.

Die patriarchale Gesellschaft hat starre Regeln und Rollenmuster für alle. Ehefrauen sind in blau gekleidet, Dienstmädchen, Marthas genannt, haben sich grün zu kleiden. Natürlich gibt es einen Geheimdienst („die Augen“) und Polizei („die Wächter“). Sie sorgen u.a. dafür, dass niemand das Land verlassen kann. Besonders wichtig sind aber auch „die Tanten“. Dies sind unverheiratete Frauen, die andere Frauen anleiten und überwachen. Dies ist die machtvollste Position, die eine Frau erreichen kann.

„Janine ist an der Reihe. Sie erzählt, wie sie mit vierzehn hintereinander von einer ganzen Gruppe von Jungen vergewaltigt wurde und eine Abtreibung hatte. (…)
Aber wessen Schuld war das?, fragte Tante Helena und streckte einen dicken Zeigefinger in die Höhe.
Ihre eigene, ihre eigene, ihre eigene, rufen wir im Chor.
Wer hat sie verführt? Tante Helena strahlt – sie ist mit uns zufrieden.
Sie war es. Sie war es. Sie war es.
Warum hat Gott so etwas Schreckliches zugelassen?
Damit sie etwas daraus lernt. Damit sie etwas daraus lernt. Damit sie etwas daraus lernt.“ (S. 101)

Was das Buch so spannend macht, ist die recht unwissende Perspektive der Erzählerin Desfred. Sie beschreibt ihr Leben als Magd. Sie durchschaut aber nicht alle Hintergründe des Systems. Auch der Leser erkennt nur häppchenweise, in welcher Situation sie sich befindet und woher sie kommt. Es ist den Frauen verboten zu lesen, miteinander zu sprechen oder Freundschaften zu schließen. Man isoliert sie, um sie unwissend zu halten. Mägde sind Gebärmaschinen, die ausschließlich auf diese körperliche Funktion reduziert und gehalten werden wie Zuchtstuten. Auch die Kenntnis über den eigenen weiblichen Körper ist begrenzt.

Desfred bemerkt im Haus des Kommandanten Fred, dass nicht alles in der Praxis so läuft, „wie es sich gehört“. Wie in jeder Diktatur gibt es die offiziellen Regeln und die, die es sich erlauben können, sie zu übertreten. Wer im System Karriere macht, erlangt Privilegien. Diese führen dazu, dass die weitgehend rechtlosen Frauen sich gegenseitig bespitzeln und das System stützen, das sie unterdrückt. (Dies erinnert mich sehr an weibliche KZ-Aufseherinnen.) Natürlich gibt es auch eine Widerstandsbewegung im Untergrund, obwohl Kritiker regelmäßig exekutiert oder als Zwangsarbeiter in „Kolonien“ gebracht werden. Ein Austausch untereinander ist kaum möglich, so dass Desfred nicht weiß, was „normal“ ist und wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten soll. Sie weiß, dass jede Unregelmäßigkeit ihr angelastet werden wird und zu ihrem Tod führen kann.

Margaret Atwood versteht es hervorragend, dieses hilflose Ausgeliefertsein spürbar zu machen. Zudem ist Desfred eine Frau, die sich noch an das Leben vor Entstehung des Staates Gilead erinnern kann. Nach und nach berichtet sie in der Rückblende, wie die Diktatur errichtet wurde. Desfred ist eine gebildete Frau, die durch die Situation aber gezwungen ist, ihre Erinnerungen und Erkenntnisse der Unmenschlichkeit in sich verschlossen zu halten, um zu überleben. Die Schilderung dieses Umbruchs erscheint so real, dass ich mir beim Lesen überlegt habe, wie ich vor so einer Situation fliehen könnte, sollte sie jemals eintreten. Insbesondere nach der Wahl Donald Trumps scheint nichts mehr unmöglich zu sein in Sachen Frauenverachtung, Kumpanei und Negierung der Fakten. Es scheint, dass Margaret Atwood dies bereits über 30 Jahre vorausgeahnt hat.

Ich bin sehr beeindruckt von diesem Buch! Es ist eine ungeheuer spannende Geschichte, die aber gleichzeitig in erschreckend realistischer Weise die Funktionsweise einer Diktatur beschreibt. Die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Gewaltregimes funktioniert immer und überall nach den gleichen Regeln. Dabei ist es bedeutungslos, ob und welche Religion als Rechtfertigungsgrundlage benutzt, oder ob dazu ein politisch-ökonomisches Konzept wie Kommunismus, Faschismus o.ä. herangezogen wird. Im Staat Gilead sind Elemente aller dieser Konzepte anzutreffen, neben dem fundamentalistischen Christentum auch Elemente des Faschismus (Rassenlehre) und des Kommunismus (alle sind innerhalb ihrer gesellschaftlichen Gruppe gleich und uniformiert). Es ist weitsichtige Gesellschaftskritik, die literarisch hervorragend verpackt ist. Vieles wird nur angedeutet und erst im Laufe der Geschichte verständlich, wenn der Leser es als Muster erkennt. Nichts wird plakativ ausbuchstabiert. Wohlverdient ist die kanadische Autorin 2017 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden.

Ein fabelhaftes Stück Literatur, das zu Recht ein Klassiker ist. Es war noch nie so nötig wie heute, dieses Buch zu lesen und Gilead entgegenzutreten. Gilead kann überall entstehen.

Der Report der Magd, Margaret Atwood, aus dem kanadischen Englisch von Helga Pfetsch, Piper Verlag, München 2017, 416 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Dienstag, 18. Februar 2020

Amy und die geheime Bibliothek, Alan Gratz


Kann man ein Kinderbuch zum Thema Zensur und Meinungsfreiheit schreiben, das dennoch leicht, spannend und lustig daherkommt? Alan Gratz kann! Dazu beruht das Buch auf wahren Umständen bzw. Missständen in den USA (und anderswo), auf die der Autor aufmerksam machen möchte.
 
Amy ist 9 Jahre alt und geht in die 4. Klasse der Grundschule. Sie ist ein Bücherwurm und eher zurückhaltend. Leider ist es schwer für Amy einen ruhigen Platz zum Lesen zu finden, da sie zwei kleinere Schwestern hat. Deshalb ist die Schulbibliothek ihr Lieblingsort, an den sie sich gern zurückzieht. Eines Tages möchte Amy dort ihr Lieblingsbuch zum wiederholten Male ausleihen, als es plötzlich nicht mehr im Regal steht. Die nette Bibliothekarin erklärt Amy, dass der Schulausschuss das Buch „verbannt“ habe. Eine Mutter, die Mitglied des Ausschusses ist, findet das Buch „ungeeignet“ für Schulkinder, da die Hauptperson im Buch lügt und von zuhause wegläuft. Das könnten andere Kinder dann vielleicht nachmachen, meint die Mutter. Amy ist empört! Außerdem wurden auf die gleiche Weise viele andere Bücher aus der Bibliothek entfernt, so dass die Kinder sie nicht mehr lesen können. Und das obwohl die Bibliothekarin dagegen war.

„Ich fühlte mich, als würde sich der Teppich unter meinen Füßen in Treibsand verwandeln. Und ich sank ziemlich schnell. Ich hielt mich an den Bücherregalen fest, um nicht umzukippen. „Aber … das Buch ist nicht ungeeignet! Es ist sehr geeignet! Es ist ein tolles Buch! Es ist mein Lieblingsbuch!“
„Ich weiß, Liebes. Ich bin deiner Meinung. (…)“
Ich konnte nur nicken. Mir war nach Weinen zumute, was dumm war. Es fühlte sich an, als wäre jemand in mein Zimmer gekommen und hätte, ohne zu fragen, alle meine Sachen mitgenommen.“ (S. 12)

Amys Interesse ist geweckt. Was stimmt nicht mit all diesen Büchern? Sie besorgt sich nach und nach Exemplare der verbannten Bücher und liest sie nun erst recht. Ihren Freunden Rebecca und Danny leiht sie die Bücher, die nun ebenfalls wissen wollen, was es damit auf sich hat. Plötzlich haben auch andere Kinder aus Amys Klasse Interesse an diesen Büchern oder vermissen ihr jeweiliges Lieblingsbuch. Da hat Amy eine Idee. Davon darf allerdings die Direktorin der Schule nichts mitbekommen. Amy und ihre beiden Freunde bauen eine geheime Bibliothek auf. Ob das lange gut geht? Außerdem überlegen sie, ob man nicht den Schulausschuss davon überzeugen könnte, dass die Bücher gar keine Gefahr für Kinder sind. Leider traut sich Amy nicht Erwachsenen Widerworte zu geben und sich für ihre Meinung stark zu machen.

In diesem äußerst pfiffigen Buch mit vielen liebenswerten Charakteren wird die Freude am Lesen gefeiert, aber auch die Bedeutung der Freiheit sich seinen Lesestoff selbst auszusuchen. Es ist Teil der Meinungsfreiheit ein Buch gut oder schlecht zu finden. Die Bedeutung des freien Zugangs zu Bibliotheken wird ebenso thematisiert wie die Konsequenzen für den einzelnen, der seine (unbequeme) Meinung offen äußert. Nach und nach fasst Amy mehr Mut und merkt, dass Erwachsene nicht immer rechthaben. Sie lernt für sich einzutreten, auch innerhalb ihrer Familie. Sie findet mit ihren Freunden eine geniale und überraschende Strategie.

Hintergrund der Geschichte ist, dass in den USA Bücher, die uns unproblematisch erscheinen mögen, tatsächlich aus vielen Bibliotheken entfernt werden, etwa aus religiösen Erwägungen, weil sie von Hexen und Zauberei oder übernatürlichen Dingen handeln. Das bedeutet, dass z.B. die Harry Potter-Serie in vielen Bibliotheken dort fehlt. In vielen Diktaturen werden Bücher aus politischen Gründen nicht zugelassen oder nur Büchern aus bestimmten Ländern erlaubt, nicht aber aus pluralistischen Ländern. Auch in Deutschland gibt es eine Form von Zensur. So ist etwa Hitlers „Mein Kampf“ nicht frei verkäuflich oder in Bibliotheken ausleihbar. Gleiches gilt für Bücher über den Bau von Bomben oder pornographische Literatur, die selbst in der Deutschen Nationalbibliothek nur zu wissenschaftlichen Zwecken (mit entsprechendem Nachweis) eingesehen werden dürfen. Das Buch zeigt auf, dass die Grenze zwischen willkürlichem Verbot und gerechtfertigtem Schutzbedürfnis fließend ist und oft im Auge des Beschauers liegt.

Ein phantastisches Buch, das viel Spaß macht und sehr zum Nachdenken anregt. Kann mal jemand einen Roman zu diesem Thema für Erwachsene schreiben? Einstweilen können alle Erwachsenen dieses hier lesen.

Amy und die geheime Bibliothek, Alan Gratz, aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel, Carl Hanser Verlag, München 2019, 248 Seiten, 15,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

Alles überstanden?, Christian Drosten, Georg Mascolo

Die Corona-Pandemie hat uns alle geprägt, bewegt, zur Verzweiflung gebracht. Mich hat der Podcast von Christian Drosten durch die Pandemie...