Montag, 20. Januar 2020

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Thomas Meyer

Motti ist wieder da! Genau da, wo wir ihn am Ende des Buches „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ (vgl. meine Rezension) zurückgelassen haben. Und doch ist dieses Buch ganz anders als sein Vorgänger. Die jiddischen Vokabeln sind deutlich weniger geworden, dafür die Handlung viel (inter-)nationaler, viel politischer – und viel abstruser. Die abenteuerlichsten Klischees über Juden und Nazis glaubt Ihr nicht? Tja, Motti eigentlich auch nicht. Bis sie sich dann doch als wahr herausstellen, zumindest in diesem herrlich überspitzten satirischen Roman.


Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti, hat bis vor kurzem als orthodoxer Jude in Zürich bei seinen Eltern gelebt. Die haben ihn jedoch rausgeworfen, nachdem er sich mit einer Schickse (einer nichtjüdischen Frau) eingelassen und andere weltliche Gewohnheiten angenommen hat. Ohne Zuhause und sozial isoliert sitzt er in einem Hotel, als er von einem unbekannten Mann kontaktiert wird, der sich als Mitglied der „Verlorenen Söhne Israels“ bezeichnet und ihm helfen will. Kann er wissen, dass sich dahinter kein Verein für Aussteiger aus der Orthodoxie verbirgt, sondern das Weltjudentum? Ein Weltjudentum gibt es doch gar nicht, oder?!

„Aber … wieso wollt ihr die Welt beherrschen? Ich dachte, das sei eine Idee der Antisemiten?“, fragt Motti, nachdem der Gesang verebbt ist.
„Ist es auch“, sagt Steve, „aber wir finden sie gut und wollen sie in die Tat umsetzen.“ (S. 71)

Ah, ja. Und wie steht es mit dem hartnäckigen Gerücht, dass die Nazis nach 1945 gar nicht Schluss gemacht haben, sondern sich eine kleine Gruppe von ihnen im Wald zusammengerottet hat und auf den richtigen Moment zur erneuten Machtergreifung wartet? Nun ja, sie haben nach dem neuen einen neusten und einen allerneusten Führer und verbreiten über das „Volksnetz“ (das, in dem Ihr gerade diesen Blog lest) ihr neogermanisches Narrativ.

„Dabei sind die Menschen nicht dumm. Sie sind bloß zu faul, die Dinge zu durchdenken, gegen die sie sind. Sonst würden sie nach spätestens dreißig Sekunden merken, was für einen unsäglichen Mist sie da glauben, und sich schämen. Diese kognitive Bequemlichkeit ist das neogermanische Kapital. Wer braucht schon Panzer und Flugzeuge, wenn es Angst und Wut gibt?“ (S. 161)

So wird der arme Motti in etwas hineingezogen, das ihm eigentlich nicht einleuchtet. „Er ist stets der Ansicht gewesen, dass Antisemitismus ein Problem sei, das die Antisemiten lösen müssen. Schließlich sind sie es, die ihn kultivieren.“ (S. 92) Aber netter Junge, der er ist, gibt er sein Bestes. Es gibt ein Wiedersehen mit seiner Mame. Und bekanntlich existiert kaum etwas zwischen Zürich und Tel Aviv, was eine entschlossene jüdische Mutter nicht lösen könnte.

Thomas Meyer schont weder Juden noch Nichtjuden, weder Nazis noch Liberale mit seinem Sarkasmus. Er nimmt die menschliche Dummheit aufs Korn in diesem herrlich witzigen Roman und findet erstaunlich einfache logische Erklärungen für Rassismus, Antisemitismus und undemokratische Strömungen. So überspitzt die Handlung, so realitätsnah ist die angesprochene Situation des stärker werdenden Populismus. Im Netz kann plötzlich alles gesagt und jedes politische Tabu gebrochen werden. Ist Mottis Geschichte denn wirklich so anders als diese unsere postfaktische Welt…?

Große Leseempfehlung für diesen lustigen, aber tiefsinnigen Roman, der herrliche Bonmots mit bestechender Logik liefert und dabei einfach großartig unterhält. Weiter so, Motti!

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Thomas Meyer, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 288 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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