Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti, hat bis vor kurzem als
orthodoxer Jude in Zürich bei seinen Eltern gelebt. Die haben ihn jedoch
rausgeworfen, nachdem er sich mit einer Schickse (einer nichtjüdischen Frau) eingelassen
und andere weltliche Gewohnheiten angenommen hat. Ohne Zuhause und sozial
isoliert sitzt er in einem Hotel, als er von einem unbekannten Mann kontaktiert
wird, der sich als Mitglied der „Verlorenen Söhne Israels“ bezeichnet und ihm
helfen will. Kann er wissen, dass sich dahinter kein Verein für Aussteiger aus
der Orthodoxie verbirgt, sondern das Weltjudentum? Ein Weltjudentum gibt es
doch gar nicht, oder?!
„Aber … wieso wollt ihr die Welt beherrschen? Ich dachte, das sei eine Idee der Antisemiten?“, fragt Motti, nachdem der Gesang verebbt ist.„Ist es auch“, sagt Steve, „aber wir finden sie gut und wollen sie in die Tat umsetzen.“ (S. 71)
Ah, ja. Und wie steht es mit dem hartnäckigen Gerücht, dass
die Nazis nach 1945 gar nicht Schluss gemacht haben, sondern sich eine kleine
Gruppe von ihnen im Wald zusammengerottet hat und auf den richtigen Moment zur
erneuten Machtergreifung wartet? Nun ja, sie haben nach dem neuen einen neusten
und einen allerneusten Führer und verbreiten über das „Volksnetz“ (das, in dem
Ihr gerade diesen Blog lest) ihr neogermanisches Narrativ.
„Dabei sind die Menschen nicht dumm. Sie sind bloß zu faul, die Dinge zu durchdenken, gegen die sie sind. Sonst würden sie nach spätestens dreißig Sekunden merken, was für einen unsäglichen Mist sie da glauben, und sich schämen. Diese kognitive Bequemlichkeit ist das neogermanische Kapital. Wer braucht schon Panzer und Flugzeuge, wenn es Angst und Wut gibt?“ (S. 161)
So wird der arme Motti in etwas hineingezogen, das ihm
eigentlich nicht einleuchtet. „Er ist stets der Ansicht gewesen, dass
Antisemitismus ein Problem sei, das die Antisemiten lösen müssen. Schließlich
sind sie es, die ihn kultivieren.“ (S. 92) Aber netter Junge, der er ist, gibt
er sein Bestes. Es gibt ein Wiedersehen mit seiner Mame. Und bekanntlich existiert
kaum etwas zwischen Zürich und Tel Aviv, was eine entschlossene jüdische Mutter
nicht lösen könnte.
Thomas Meyer schont weder Juden noch Nichtjuden, weder Nazis
noch Liberale mit seinem Sarkasmus. Er nimmt die menschliche Dummheit aufs Korn
in diesem herrlich witzigen Roman und findet erstaunlich einfache logische Erklärungen
für Rassismus, Antisemitismus und undemokratische Strömungen. So überspitzt die
Handlung, so realitätsnah ist die angesprochene Situation des stärker werdenden
Populismus. Im Netz kann plötzlich alles gesagt und jedes politische Tabu
gebrochen werden. Ist Mottis Geschichte denn wirklich so anders als diese
unsere postfaktische Welt…?
Große Leseempfehlung für
diesen lustigen, aber tiefsinnigen Roman, der herrliche Bonmots mit bestechender
Logik liefert und dabei einfach großartig unterhält. Weiter so, Motti!
Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Thomas
Meyer, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 288 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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