Während für den Entführten die Isolation das vorherrschende
Thema war, beschreibt Johann ein Zuviel. Er fühlte sich wie ein Fremder im
eigenen Haus, im Weg, zu viele fremde Menschen um ihn herum. Obwohl der Autor bei
der Abfassung seines Buches bereits Mitte 30 war, beschreibt er sehr
nachvollziehbar die Gefühle eines pubertierenden 13jährigen. Ihm steht nicht
die detaillierte, oft komplizierte Sprache seines Vaters zur Verfügung, der als
Philologe im sprachlichen Ausdruck zuhause ist. Sein Problem war eher die Sprachlosigkeit
inmitten des vielen Geredes. Die Parallelwelt, in die seine Mutter und er
geworfen wurden, konnte mit Worten kaum beschrieben werden. Die Angst, der
Vater könnte bereits tot sein oder nach der Geldübergabe umgebracht werden,
durfte nicht ausgesprochen werden. Das hätte zum nervlichen Zusammenbruch der
Familie geführt. Vielleicht war es deshalb so wichtig über 20 Jahre nach der
Tat endlich Worte für die damalige Situation zu finden.
„Die Stimme kreischte: „Sie sind das jetzt, das ist klar. Wir haben technische Probleme. Wir melden uns wieder.“Meine Knie wurden weich. Das ganze Haus schien zu erzittern vor diesem schrecklichen Geräusch. Keine Ecke, kein Spalt, der nicht von diesen Lauten erfüllt war.Ich sank auf die Stufen, klammerte mich am Treppengeländer fest, meine Hand rutschte vom hölzernen Handlauf hinunter an die eiserne Befestigung, wo das kalte Gefühl die Wahrnehmung verstärkte, die durchs Haus kreischende Stimme sei selbst aus Metall.Meine Zähne aufeinandergepresst. Den Bauch angespannt und die Ellenbogen in meine Seite verkeilt, saß ich auf den kalten, steinernen Treppenstufen.“ (S. 118)
Die Mutter versucht, Johann nicht alle Details zu erzählen,
um ihn zu schützen. Dennoch bekommt er sehr viel mit, sitzt bei Gesprächen mit
Polizisten dabei und hört heimlich einen nächtlichen Anruf der Entführer mit
an, der durch den benutzten Stimmverzerrer noch unwirklicher und gespenstischer
klingt. Johann Scheerer beschreibt, wie hilflos er sich gefühlt hat, zu
verdrängen versucht hat, und wie schuldig er sich gefühlt hat, weil er nicht
alle gutgemeinten Dinge hat tun können, die sein Vater ihm aus der Gefangenschaft
geschrieben hatte. Er beschreibt die Zerrissenheit, sich einerseits in der
Ablösung von den Eltern befunden zu haben und wie andererseits eine neue Nähe
zu ihnen notwendig wurde, um diese schreckliche Zeit zu überstehen.
Es ist eine beeindruckende Schilderung. Ich frage mich, wie
ich mich als Mutter in einer solchen Extremsituation, auf die sich niemand
vorbereiten kann, verhalten hätte. Wieviel soll man dem halbwüchsigen Sohn
erzählen, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt? Wieviel soll man ihm
verschweigen, um ihn nicht noch mehr zu überfordern, als die Situation es
ohnehin tut? Was kann man als Mutter überhaupt noch leisten und steuern, wenn
der geliebte Mann in Lebensgefahr schwebt?
Als erschreckend habe ich die Schilderung der Polizeiarbeit
empfunden, bei der so viele Pannen geschehen sind, verspätet geschickte Fahrer,
ein unpassendes Fahrzeug, dem sofort anzusehen war, dass es nicht dasjenige der
Familie war und vieles mehr. Wie hätte die sog. Angehörigenbetreuung besser
gemacht werden können? Ist es sicherer für den Entführten, die Polizei gar
nicht erst einzuschalten? Nach mehreren gescheiterten Geldübergaben hat erst
diejenige geklappt, die ohne Mitwirkung der Polizei von Dritten durchgeführt
wurde, u.a. unter Einschaltung eines privaten Sicherheitsdienstes einer Bank.
Hätte die ganze Entführung verhindert werden können, wenn die Familie Reemtsma
/ Scheerer sich stärker abgeschottet und durch Bodyguards, Zäune und
Überwachungskameras geschützt hätte? Das Buch macht mich sehr nachdenklich.
Ein erschütterndes
Buch, das viele Fragen aufwirft. Ein Buch, das nach über 20 Jahren endlich
Worte findet für das Grauen der Entführung und dem Sohn eine eigene Stimme verleiht.
Wir sind dann wohl die Angehörigen, Johann Scheerer, Piper
Verlag, München 2018, 240 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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