Der Erzähler ist ein Vater von Mitte vierzig. Er befindet
sich auf einer Reise mit seinem etwa siebenjährigen Sohn. Was der Sohn nicht
weiß und den Vater quält: Der Urgroßvater, der Großvater und der Vater des
Vaters haben sich das Leben genommen. Der Vater war sieben, als sein Vater
erhängt im Elternhaus gefunden wurde. Der Erzähler fühlt den Sog der Vergangenheit,
fragt sich, ob er auch in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten muss oder ob
es einen Weg gibt, seinem eigenen Sohn das Leben ohne Vater zu ersparen.
Die Selbstmorde sind nicht die einzige Last der Vergangenheit
des Vaters, von der wir langsam durch Rückblenden erfahren. Die männlichen Vorfahren
waren Alkoholiker, Nazis waren darunter, manche waren im Krieg und sind nicht zurückgekommen.
Der Vater sieht keine andere Möglichkeit mit den Dämonen der Vergangenheit
fertigzuwerden, als zusammen mit seinem Sohn eine Reise an die Schauplätze
dieser belasteten Familiengeschichte anzutreten. Mit ausgeschaltetem Handy und
einem Mietwagen sind die beiden unterwegs, ganz heimlich. Sie sehen die
Hochzeitskirche der Eltern, den Friedhof, auf dem ein Freund des Vaters liegt
und die schwäbische Landschaft mit ihren Gewässern, die eine besondere Bedeutung
für den Erzähler haben.
Ich fand das Buch zu Anfang etwas schwer zu lesen. Man sieht
Vater und Sohn auf der Reise, spürt gleich, dass etwas nicht ganz in Ordnung zu
sein scheint, man hört Gesprächsfetzen, weiß aber nicht, worauf sie sich beziehen.
Die Erzählung des gegenwärtigen Geschehens wird immer wieder unterbrochen durch
Erinnerungen oder auch Träume des Vaters. Nicht immer geben die Rückblenden die
Realität wieder. Manchmal drücken sie Ängste und Befürchtungen aus. Obwohl der
Junge fröhlich wirkt und der Vater sich Mühe mit ihm gibt, bleibt eine
beklemmende Stimmung, z.B. wenn der Vater bereits am Morgen Dosenbier vor dem
Jungen trinkt. Das Ungesagte liegt wie Blei zwischen den Zeilen.
„Ich fragte mich, ob es richtig gewesen war, mit dem Jungen hierherzukommen. Ihm zu zeigen, was von mir und meiner Kindheit noch übrig war.Dadurch machte ich alles unnötig schwer.Alles wurde zäh, jede Bewegung, jeder Gedanke. Fette Brocken Lehm klebten an den Schuhen und am Hirn und bremsten alles.Ich konnte doch nur drum herumreden. Ich musste den Schwarzen Gott von ihm fernhalten, und ich wusste nicht wie.“ (S. 84/85)
Der Erzähler ist ein Fremder in seinem eigenen Leben. Mit
Ticks hat er schon als Kind versucht, sein Schicksal zu beeinflussen. Davon ist
er bis heute nicht frei. Er möchte seine Verklemmtheit und Traumatisierung nicht
an den Sohn weitergeben. Aber wie soll das gelingen? Er hat sein Leben lang
versucht, der kleinbürgerlichen Enge zu entfliehen, in der über die Tabus wie
die Freitode oder die Kriegsvergangenheit nicht gesprochen werden durfte. Er
ist gebildeter als die Eltern, hat den Wahnsinn länger überlebt als sein
eigener Vater, ist weggezogen aus der schwäbischen Kleinstadt, hat der Kirche
den Rücken gekehrt. Aber die Vergangenheit ist in ihm, er kann sich selbst
nicht entfliehen.
Ein nachdenklicher
Roman über die Last der Vergangenheit und den Versuch, sich daraus zu befreien.
Lesenswert!
Serpentinen, Bov Bjerg, claassen im Ullstein Verlag, Berlin
2020, 272 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung
gestellte Rezensionsexemplar.)
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