Im Jahr 1996 ist der Millionär Jan Philipp Reemtsma entführt
und 33 Tage lang in einem Keller angekettet festgehalten worden, bis
schließlich 30 Mio. Mark Lösegeld von seiner Familie bezahlt worden waren.
Danach wurde er freigelassen. Soweit die Fakten. Mit diesen beginnt auch das
Buch.
Was dann geschildert wird, ist das subjektive Erleben des Eingeschlossenen.
Ich habe selten einen so reflektierten Bericht über ein solch schreckliches
Ereignis gelesen. Schon die Darstellungsweise ist besonders und macht sehr viel
Sinn. Dass die Entführung traumatisierend wirkte, versteht sich von selbst.
Dass es schwer ist, über ein solches Ereignis zu schreiben, ist ebenfalls klar.
Reemtsma, dem es ein Bedürfnis war, seine Geschichte selbst zu erzählen, hat
für diese Situation eine gute Lösung gefunden. Die Eindrücke und Gefühle von
damals beschreibt er in der 3. Person Singular, um die nötige Distanz zu
halten. Seine Gedanken und Reflexionen aus späterer Sicht schreibt er in der
Ich-Form. So ist an jeder Stelle des Textes klar, von wann ein Eindruck oder
eine Einschätzung stammt. Die beiden Zeitebenen unterscheiden sich verständlicherweise
erheblich. Wie gut Reemtsma es schafft, beide Wissensstände und seelischen Zustände
auseinanderzuhalten, ist erstaunlich.
Reemtsma reflektiert darüber, dass er während der Zeit
seiner Gefangenschaft die Perspektive der Entführer übernehmen musste, weil sie
seine einzige Informationsquelle waren. Seine Ideen und Gedanken zu seiner
Situation waren geprägt von der täglichen Todesangst und dem Zustand
erzwungener Passivität. Im Nachhinein sind ihm manche Gedankengänge peinlich
oder erscheinen ihm abwegig. Ein Beispiel: Reemtsma hatte in der Gefangenschaft Personen als
mögliche Geldboten für die Übergabe des Lösegeldes benannt, nachdem diese
mehrmals gescheitert war. Hierüber schreibt er:
„Denn sowenig jemand das Recht hat, von Menschen, die in einem Anstellungsverhältnis zu ihm stehen, zu verlangen, einen solchen Job zu übernehmen, der doch immerhin nicht ganz ohne Risiko ist, sowenig kann derjenige, der, in freundschaftlicher Nähe zu einem Menschen stehend, von diesem gebeten wird, sein Leben zu retten, dies als Zumutung zurückweisen. Genaugenommen übte er aus diesem Keller heraus moralischen Terror aus. Weder Arndt noch Clausen konnten die Bitte ohne sehr triftigen Grund, allenfalls krankheitshalber, ablehnen. Er war unter die Erpresser gefallen und übte nunmehr selbst moralische Erpressung aus. Ich bin froh, daß ihm das schon im Keller deutlich gewesen ist und er es wenigstens annäherungsweise in den Briefen zum Ausdruck gebracht hat.“ (S. 142)
Auf welchem moralischen Niveau Jan Philipp Reemtsma denkt, in Bezug auf die Situation der Entführung und wohl auch sonst im Leben, wird im dritten Teil seines Buches deutlich. Nach der Schilderung seines
damaligen Erlebens bedenkt er das Geschehen auf einer Meta-Ebene. Er
reflektiert unter Heranziehung großer Philosophen darüber, ob es sowas wie
einen unveränderlichen Wesenskern des Menschen, ein Ich, eine Identität
wirklich gibt, da er den Eindruck hatte, damals im Keller „aus der Welt
gefallen“ zu sein und seine Identität verloren zu haben. Er war herabgewürdigt
zum bloßen Tauschobjekt gegen Geld. Ferner denkt er darüber nach, ob er die
Täter hat hassen können und ist unangenehm berührt von seiner Feststellung,
dass er sich auf einen Wortwechsel mit dem Haupttäter (Thomas Drach) damals gefreut
habe. Es war eben ein menschliches Gespräch in seiner totalen Isolation.
Reemtsma betrachtet die von ihm an seine Frau geschriebenen Briefe aus der Gefangenschaft
und fühlt sich schuldig dafür, es seiner Frau durch Sätze wie „Ich kann nicht
mehr.“ zu schwer gemacht zu haben. Welch einen Anspruch hat dieser Mann an sich,
der selbst im Angesicht des möglichen Todes noch so viel Contenance und klares
Denken von sich erwartet!
Schon auf den ersten Seiten des Buches wird deutlich, was
für ein intelligenter, gebildeter und sensibler Mensch Jan Philipp Reemtsma
sein muss. Ich habe noch nie eine so detailliert durchdachte Beschreibung eines
solchen traumatischen Erlebnisses gelesen. Man bedenke, dass traumatisches
Erleben das Sprachzentrum des Gehirns teilweise blockieren oder stören kann und dass traumatische Erinnerungen zum Schutz der Seele verdrängt werden. Dass es
Reemtsma dennoch gelungen ist, seine Erlebnisse relativ kurz nach dem Verbrechen
in dieser Form niederzuschreiben, ist mehr als beachtlich. Auch ist sein
Bericht nicht von Bitterkeit und schon gar nicht von Selbstmitleid geprägt,
sondern von analytischer Sachlichkeit und Authentizität. Ich hoffe sehr, dass ihm
das Schreiben und Veröffentlichen dieses Buches den ersehnten Erfolg gebracht
hat: Die aufgezwungene Intimität zwischen den Entführern und ihm aufzubrechen,
indem er öffentlich macht, was nur er mit den Tätern erlebt hat, sowie sich die
Deutungshoheit über die eigene Geschichte zurückzuholen, um sie nicht den
Medien zu überlassen.
Ich ziehe meinen Hut
in Hochachtung vor Jan Philipp Reemtsma, der die große Gabe seines wachen
Geistes für sich und alle, die sein Buch lesen, genutzt hat, um die
traumatische Entführung zu verarbeiten. Was für ein Mensch! Was für ein
faszinierendes, berührendes Buch!
Im Keller, Jan Philipp Reemtsma, Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Reinbek bei Hamburg 1998, 224 Seiten, 12,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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