Gibson Wells, dessen Figur offensichtlich an Steve Jobs
angelehnt ist, ist der reichste Mann der Welt. Er hat in den USA den Konzern Cloud
aufgebaut, der neben einem Onlinehandel auch Speicherkapazitäten in Clouds
entgeltlich zur Verfügung stellt. Der Versandhandel beliefert binnen Stunden die
ganze Welt mittels Drohnen. In den USA traut sich kaum noch jemand in ein
Einkaufszentrum, um persönlich einzukaufen, denn an einem Black Friday gab es
ein Massaker mit vielen Toten. Außerdem kann man sich so gut wie nicht mehr im
Freien aufhalten aufgrund der massiven Erderwärmung und der schädlichen
Sonneneinstrahlung. Märkte und Infrastruktur sind zusammengebrochen.
Cloud hat fast sämtliche Konkurrenten aus dem Feld
geschlagen, so dass die meisten Städte verödet sind. Der lokale Handel sowie
die Gastronomie mussten aufgegeben werden. Arbeitsplätze fielen weg, so dass
auch die Menschen weggezogen sind. Dafür bietet Cloud alles aus einer Hand. Der
Konzern ist der größte, wenn nicht teilweise der einzige Arbeitgeber. Die
Mitarbeiter wohnen auf dem Gelände, erhalten dort medizinische Versorgung, auch
Restaurants und Vergnügungszentren sind vorhanden, ohne dass man das Gelände verlassen
muss. Die sogenannten MotherClouds sind also nicht nur Arbeitsstätten, sondern
autarke Städte mit eigener digitaler Währung.
„Zinnia fuhr mit dem Zeigefinger über das Display der Uhr. So glatt, dass es schlüpfrig war. Als sie das Band anlegte, schnappte der Magnetverschluss über der dünnen Haut an der Innenseite ihres Handgelenks zu.Nachts aufladen. Sonst nicht abnehmen, weil es Gesundheitsdaten aufzeichnete, Türen öffnete, dein Rating registrierte, Arbeitsaufgaben übermittelte, Transaktionen abwickelte und wahrscheinlich noch hundert andere Dinge tat, die man in der MotherCloud brauchte. Genauso gut hätte man Handschellen tragen können.“ (S. 75)
Der Roman wird abwechselnd erzählt von Gibson, der demnächst
an Krebs sterben wird, sowie Paxton und Zinnia, die sich beim Einstellungstest für
einen Job bei Cloud kennenlernen. Paxton hat sein eigenes Unternehmen aufgrund
des Marktdrucks von Cloud verloren und muss sich als Angestellter verdingen.
Zinnia schleust sich unter falschem Namen in den Betrieb ein, um ihrer
eigentlichen Tätigkeit als Industriespionin nachzugehen.
Der Roman schildert eindrücklich, welche Lebens- und
Arbeitsbedingungen möglich werden, wenn ein einziger Konzern den Markt
beherrscht und sich durch seinen wirtschaftlichen Einfluss auch politische
Macht sichert. Cloud hat eine staatsähnliche Struktur, da alles firmenintern
geregelt wird, von der Bank über die Fleischproduktion bis hin zur
Energieerzeugung und dem Betrieb des Flughafens. Eine faktische Diktatur mit
perfiden Machtstrukturen entsteht. Dabei hat doch jeder der Mitarbeiter sich
aus freien Stücken entschieden, dort arbeiten zu wollen und somit diese
Struktur gewählt – oder nicht?! Wie gut funktioniert aber die digitale
Überwachung der Mitarbeiter mittels GPS-Signal? Wird es Zinnia gelingen die
Firmensoftware auszuspähen und Unregelmäßigkeiten aufzudecken? Wer hat eigentlich
ein Interesse an diesem Wissen? Welche der menschlichen Interaktionen sind
emotional echt, welche beruhen auf Kalkül? Das ist nicht immer leicht zu
durchschauen, für keinen der Beteiligten.
Der Roman hat mich sehr gefesselt. Die geschilderten
Zustände sind bedrückend, vor allem weil sie von der Realität nicht allzu weit
entfernt erscheinen. Schon jetzt wird im Onlinehandel um
Gewerkschaftsbeteiligung, Mindestlohn und Privatsphäre der Mitarbeiter
gerungen. Alle technischen Möglichkeiten, die der Roman benennt, gibt es
tatsächlich heute schon. Die Spionagegeschichte erzeugt echte Thrillerspannung.
Der Part von Gibson, dem Firmengründer, liest sich wie die verlogene, aalglatte
Werbebroschüre des Unternehmens, der die schroffe Wirklichkeit gegenüber
gestellt wird. Interessant ist die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen einerseits
versus der gesellschaftlichen Zwänge andererseits in einem solchen System.
Ein fesselnder
Pageturner, der uns zuruft: Buy local!
Der Store, Rob Hart, aus dem Amerikanischen von Bernhard
Kleinschmidt, Wilhelm Heyne Verlag, München 2019, 592 Seiten, 22,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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