Das Besondere an dieser sehr langsamen Erzählung ist die die
romantische Bildsprache und die Sensibilität für die Gefühlswelt der
Protagonistinnen, für das Unausgesprochene und Unaussprechliche. Das namensgebende
Eis-Schloss ist ein im Winter gefrorener Wasserfall in der Nähe eines norwegischen
Dorfes. Schon die Schilderung des Eises ist meisterhaft. Die Farben in blaugrün,
das Knacken des sich bewegenden Eises und die beißende Winterkälte – mit allen
Sinnen lässt der Erzähler uns durch kindlich staunende Augen dieses majestätische
Naturschauspiel erleben. Wer wäre nicht angezogen von einem hohen Schloss aus
Eis, auf dem Sonnenlicht die Wassertropfen des Flusses schimmern lässt?
Die Geschichte ist die einer aufkeimenden Freundschaft
zwischen zwei elfjährigen Mädchen. Unn hat vor kurzem ihre Mutter verloren und
ist daher zu ihrer freundlichen Tante ins Dorf gezogen. Siss ist die Anführerin
in der Schule. Sie erkennt in Unn eine Seelenverwandte. Beide brennen darauf
sich näher kennenzulernen, aber etwas scheint dies zunächst zu verhindern. Siss
weiß noch nicht, dass Unn ein schmerzliches Geheimnis hat, über das sie nicht
zu sprechen wagt. Siss ist sich sicher, dass sie es nicht ertragen könnte, von
dem Geheimnis zu hören. Am Tag nach einem vertraulichen Gespräch zwischen den
Mädchen ist Unn plötzlich verschwunden. Niemand außer dem Leser weiß, dass sie
allein zum Eis-Schloss aufgebrochen ist.
„Unn blickte in eine Zauberwelt aus kleinen Zinnen, Dachwölbungen, bereiften Kuppeln, weichen Bögen und verworrenem Spitzengeklöppel. Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter. Stränge des Wasserfalls wurden vom Eis abgelenkt und schossen in neuen Betten dahin und bildeten neue Formen. Alles glänzte. Die Sonne war nicht gekommen, aber alles glänzte aus sich heraus eisblau und grün, und todkalt.“ (S. 50/51)
Sie hat es betreten, darin Räume durchwandert, die
stellvertretend für verschiedenste Gefühle in ihr zu stehen scheinen. Was macht
Unns Verschwinden mit Siss? Siss versteht ohne Worte, wie es in Unn aussehen
muss. Auch Siss durchlebt verschiedenste Gefühle, die sie niemandem mitteilen
kann. Und so ist die Erzählung auch eine Geschichte der Einsamkeit, die durch
das Unsagbare entsteht.
Eine verzaubernde
Erzählung, die das Äußere ebenso wie das Innere schillernd und poetisch beschreibt,
voll vom Zauber der menschlichen Seele. Märchenhaft!
Das Eis-Schloss, Tarjei Vesaas, aus dem Norwegischen von Hinrich
Schmidt-Henkel, Guggolz Verlag, Berlin 2019, 202 Seiten, 22,00 EUR
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