In einem Lokal, in dem er die Zeit totschlägt, begegnet er
Mie, einer jungen Frau, die eigentlich anders heißt. Mie ist sie nur heute. Mie
berichtet, dass sie eine Art Schauspielerin sei, die Menschen buchen können, um
eine bestimmte Rolle zu spielen, etwa eine Freundin oder Ehefrau, um ein
Familienfest zu besuchen oder die Tochter, die jemand nie hatte. Heute sei sie
eben als Mie gebucht und habe sich entsprechend gekleidet. Mie schlägt vor,
dass der Erzähler morgen einen gewissen Herrn Katō spielen könne. Man werde
dafür auch bezahlt. Der Erzähler lässt sich auf diesen Vorschlag ein.
„Was ist schon wahr, fragt er sich, und was nicht? Kein Zaun trennt das eine vom anderen. Und wenn doch, dann gibt es Schlupflöcher, so groß, dass man problemlos durch sie hindurchsteigt, sich nicht verfängt an einem abstehenden Draht. Kaum auf der anderen Seite, ist es derselbe Boden, ein wenig feucht, aber nicht zu sehr: Man sinkt nicht ein. Hinterlässt keinen Abdruck. Erst weiter hinten wird es glitschig. Aber solange er sich nah am Zaun aufhält, wird er nicht ausrutschen.“ (S. 69)
Wir tauchen ein, zuerst in die Familie des Erzählers, sein
etwas erstarrtes Verhältnis zu seiner Frau und den Kindern, dann auch in die
Familien derer, die einen „Stand-In“, also einen Schauspieler für einen Tag zu
einem bestimmten Zweck buchen. Warum tun Menschen das? Was bekommen sie von dem
Schauspieler, das sie im wahren Leben nicht bekommen? Und ist das eigentlich
schlimm, sich etwas vorspielen zu lassen? Die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit
verschwimmt. Kann nicht etwas, das wir uns vorstellen, genauso schön sein wie
etwas, das wirklich geschehen ist? Manchmal kann eine Vorstellung auch zu einer
Veränderung in der realen Welt führen. Spielen wir nicht auch in der eigenen
Familie manchmal eine Rolle?
Der Roman hat ein langsames, beschreibendes Erzähltempo.
Durch den Sprachfluss wird die Geschwindigkeit des Lebens dargestellt, das nach
dem Renteneintritt des Erzählers fast zum Erliegen kommt. Die Sprache ist ein
bisschen eigentümlich, obwohl es sich bei dem Buch nicht um eine Übersetzung
handelt, sondern im Original auf Deutsch geschrieben wurde. Interessant fand
ich an der Sprache, dass sie mich stark an die Diktion erinnert, die ich aus
Übersetzungen aus dem Japanischen kenne. Die Satzmelodie und Wortwahl sind
irgendwie anders als bei der Übersetzung aus anderen Sprachen. Woran das wohl
liegt bei einem deutschen Text?
Die Autorin wurde 1980 in Österreich geboren, ihre Mutter
ist Japanerin. Der Roman war 2018 auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis nominiert.
Ein interessanter
Roman, auf dessen langsames Tempo sich einzulassen lohnt. Die leicht
philosophischen Anklänge über Schein und Sein fand ich inspirierend.
Herr Katō spielt Familie, Milena Michiko Flašar, Verlag Klaus
Wagenbach, Berlin 2018, 176 Seiten, 20,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags. Exemplar kostenlos durch ein Gewinnspiel vom Verlag
erhalten.)
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