Sonntag, 29. Dezember 2019

Herr Katō spielt Familie, Milena Michiko Flašar

Herr Katō heißt eigentlich ganz anders. Er ist gerade in Rente gegangen und lebt mit seiner Frau in ihrem eigenen Häuschen auf einem Berg, irgendwo in Japan. Die Kinder sind längst ausgezogen. Ihm ist langweilig. Und auch seiner Frau fällt die Umstellung schwer, ihren Mann den ganzen Tag zuhause zu haben. So schickt sie ihn gelegentlich zu einem Spaziergang nach draußen. Nicht einmal krank ist er, das sagt sein Arzt. Er braucht sich also nicht um eine neue Diät, Sport oder die Einnahme von Tabletten zu kümmern. Was soll er nur anfangen?


In einem Lokal, in dem er die Zeit totschlägt, begegnet er Mie, einer jungen Frau, die eigentlich anders heißt. Mie ist sie nur heute. Mie berichtet, dass sie eine Art Schauspielerin sei, die Menschen buchen können, um eine bestimmte Rolle zu spielen, etwa eine Freundin oder Ehefrau, um ein Familienfest zu besuchen oder die Tochter, die jemand nie hatte. Heute sei sie eben als Mie gebucht und habe sich entsprechend gekleidet. Mie schlägt vor, dass der Erzähler morgen einen gewissen Herrn Katō spielen könne. Man werde dafür auch bezahlt. Der Erzähler lässt sich auf diesen Vorschlag ein.

„Was ist schon wahr, fragt er sich, und was nicht? Kein Zaun trennt das eine vom anderen. Und wenn doch, dann gibt es Schlupflöcher, so groß, dass man problemlos durch sie hindurchsteigt, sich nicht verfängt an einem abstehenden Draht. Kaum auf der anderen Seite, ist es derselbe Boden, ein wenig feucht, aber nicht zu sehr: Man sinkt nicht ein. Hinterlässt keinen Abdruck. Erst weiter hinten wird es glitschig. Aber solange er sich nah am Zaun aufhält, wird er nicht ausrutschen.“ (S. 69)

Wir tauchen ein, zuerst in die Familie des Erzählers, sein etwas erstarrtes Verhältnis zu seiner Frau und den Kindern, dann auch in die Familien derer, die einen „Stand-In“, also einen Schauspieler für einen Tag zu einem bestimmten Zweck buchen. Warum tun Menschen das? Was bekommen sie von dem Schauspieler, das sie im wahren Leben nicht bekommen? Und ist das eigentlich schlimm, sich etwas vorspielen zu lassen? Die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit verschwimmt. Kann nicht etwas, das wir uns vorstellen, genauso schön sein wie etwas, das wirklich geschehen ist? Manchmal kann eine Vorstellung auch zu einer Veränderung in der realen Welt führen. Spielen wir nicht auch in der eigenen Familie manchmal eine Rolle?

Der Roman hat ein langsames, beschreibendes Erzähltempo. Durch den Sprachfluss wird die Geschwindigkeit des Lebens dargestellt, das nach dem Renteneintritt des Erzählers fast zum Erliegen kommt. Die Sprache ist ein bisschen eigentümlich, obwohl es sich bei dem Buch nicht um eine Übersetzung handelt, sondern im Original auf Deutsch geschrieben wurde. Interessant fand ich an der Sprache, dass sie mich stark an die Diktion erinnert, die ich aus Übersetzungen aus dem Japanischen kenne. Die Satzmelodie und Wortwahl sind irgendwie anders als bei der Übersetzung aus anderen Sprachen. Woran das wohl liegt bei einem deutschen Text?

Die Autorin wurde 1980 in Österreich geboren, ihre Mutter ist Japanerin. Der Roman war 2018 auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Ein interessanter Roman, auf dessen langsames Tempo sich einzulassen lohnt. Die leicht philosophischen Anklänge über Schein und Sein fand ich inspirierend.

Herr Katō spielt Familie, Milena Michiko Flašar, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018, 176 Seiten, 20,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Exemplar kostenlos durch ein Gewinnspiel vom Verlag erhalten.)

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