Jonathan Noel ist in den Fünfzigern und lebt in einem
kleinen, bescheidenen Zimmer in Paris. Seit dreißig Jahren arbeitet er im
selben Job, als Wachmann einer Bank. Ebenfalls seit Jahrzehnten lebt er in
einer sog. Chambre de bonne, also einem ehemaligen Dienstmädchenzimmer in einem
Pariser Altbau, zu erreichen über die Hintertreppe, ausgestattet mit Etagenklo
und Waschbecken im Zimmer. Er ist mit seinem grundanständigen und
gleichförmigen Leben zufrieden. Aber eines Morgens geschieht etwas, das
Jonathan zutiefst erschrecken lässt. Als er die Tür seines Zimmers öffnet,
sitzt dort eine Taube.
„(…), in Notwehr ist es erlaubt, Paragraph eins der Dienstordnung für bewaffnetes Wachpersonal, es ist sogar geboten, kein Mensch macht dir einen Vorwurf, wenn du einen Menschen erschießt, im Gegenteil, aber eine Taube?, wie erschießt man eine Taube?, das flattert, eine Taube, das verfehlt man leicht, das ist grober Unfug, auf eine Taube zu schießen, das ist verboten, das führt zum Einzug der Dienstwaffe, zum Verlust des Arbeitsplatzes, du kommst ins Gefängnis, wenn du auf eine Taube schießt, nein, du kannst sie nicht töten, aber leben, leben kannst du auch nicht mit ihr, niemals, in einem Haus, wo eine Taube wohnt, kann ein Mensch nicht mehr leben, eine Taube ist der Inbegriff des Chaos und der Anarchie, eine Taube, das schwirrt unberechenbar umher, das krallt sich ein und pickt in die Augen, eine Taube, das schmutzt unablässig und stäubt verheerende Bakterien aus und Meningitisviren, das bleibt nicht allein, eine Taube, das lockt andere Tauben an, (…)“ (S. 18)
Jonathans Ekel ist unbeschreiblich. Doch das ist erst der
Anfang eines schrecklichen Tages. Irgendwie schafft er es, zu seiner
Arbeitsstelle zu gelangen. Doch auch dort gerät die Welt aus den Fugen.
Ungeheure Dinge passieren ihm, an Peinlichkeit nicht zu überbieten, findet
Jonathan. Auf atemlosen knapp unter hundert Seiten begleiten wir Jonathan durch
seinen Tag der Extreme. Dafür gibt es ein Wort: Paranoia. Jeder scheint
Jonathan zu beobachten, die Welt ist gegen ihn, jeder Fehler unverzeihlich,
aufgeladen mit Selbsthass wankt Jonathan dem Ende entgegen. Seine zwanghaften
Strukturen werden dem Leser offenbar, ebenso wie seine Unfähigkeit zu
Alltagsinteraktionen mit anderen Menschen. Sein Inneres brodelt, während die
Welt draußen anscheinend ungerührt fortexistiert.
Die Gedankenwelt des Jonathan Noel ist extrem. Dennoch wird
sich jeder Leser im Kleinen darin wiedererkennen. Wir alle kennen Tage, an
denen wir uns so verletzlich fühlen, dass ein kleines Missgeschick, etwa ein
umgestoßenes Glas, zum Drama wird. Tage, an denen wir denken, jeder Passant
müsse jeden Makel an uns sofort entdecken und uns dafür verachten. Und so
verachten wir uns selbst. Dieses in Maßen normale Gefühl hat Süskind bis zur
Groteske auf die Spitze getrieben. Ein seltsames Buch, das uns zeigt, wie
zerbrechlich unsere innere Welt sein kann, ohne dass dies irgendein Mensch
mitbekommt.
Weltuntergangsszenario
mit Taube – sowas kann wohl nur Patrick Süskind. Für mich kein großes
Meisterwerk, aber als Idee durchaus interessant.
Die Taube, Patrick Süskind, Diogenes Verlag, Zürich 1990,
112 Seiten, 10,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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