Um das Ting entsteht ein Start-up Unternehmen in Berlin aus vier sehr
unterschiedlichen Menschen. Die hochsensible Niu ist eine fabelhafte
Programmiererin, die sich mit selbstlernenden Algorithmen auskennt. Linus kennt
sich mehr mit der technischen Seite aus und weiß, wie Sensoren gebaut werden.
Adam, aus einfachen Verhältnissen einer polnischen Einwandererfamilie kommend,
weiß wie man Dinge vermarktet. Und Kasper, dessen Familie seit Generationen ein
Consultingunternehmen führt, vertritt die kaufmännische Seite. Sie alle haben
ganz unterschiedliche Motive, warum sie am Ting mitarbeiten.
Um das Ting in seiner Betaphase testen zu können,
installieren die vier Gründer es bei sich und verpflichten sich vertraglich,
jeder Empfehlung des Ting bedingungslos zu folgen. Jeder, auch in ganz privaten
Zusammenhängen. Denn wie soll man sonst mögliche Bugs finden? Sie entwickeln
das Ting technisch weiter, so dass seine Empfehlungen nirgends mehr abgelesen
werden müssen, sondern vom Nutzer als innere Stimme in seinem Kopf gehört
werden können. Jeder der vier reagiert völlig unterschiedlich auf das Ting. Und
mancher fühlt sich, als sei er niemals mehr allein in einem Raum. Die
Anwesenheit des Ting ist spürbar. Das kann sehr tröstlich sein, aber auch
gespenstisch.
"Der Fahrtwind gleitet an seinem Helm ab und schlägt in seinen Anzug. Der Helm, der Muskelkater, die heimelige Wohnung - all das fühlt sich noch nicht richtig an. Sondern wie das Leben eines andern Menschen, in das er für eine abgesteckte Zeit schlüpft. Das wird er nicht im Blog erwähnen, denkt Adam. Denn das Gefühl wird nicht lang Bestand haben. Bald wird das sein gewohntes Leben sein, als hätte es nie ein anderes gegeben. Stattdessen soll der Blog- Artikel den aktuellen Zustand mit den ersten Tagen des Beta-Tests kontrastieren." (S. 217)
Dieser packende Roman ist von unserer technischen Realität
nur einen winzigen Schritt entfernt. Niemand findet es mehr seltsam, seine
Pulsfrequenz von einem Armband abzulesen oder vom Handy an einen Termin
erinnert zu werden. Die Geschichte wirft viele interessante gesellschaftliche
und ethische Fragen auf. Auf wessen Empfehlungen vertrauen wir im Leben? Sind
Empfehlungen, die auf der Auswertung realer Daten beruhen, sinnvoller als
solche, die aus dem Bauch heraus getroffen werden? Was kann künstliche
Intelligenz und wer steuert sie? Jeder Handlungsempfehlung liegt eine Bewertung
der Situation zugrunde. Welches Wertesystem steht dahinter und wer bestimmt es?
Was ist der „perfekte Mensch“ und ist ein solcher eigentlich möglich und wünschenswert?
Wo verläuft die Grenze zwischen Optimierung und Selbstausbeutung? Ist jeder,
der das Ting nicht nutzt, schuld an allem Ungemach, das ihm im Leben widerfährt,
weil er es hätte verhindern können?
Mich hat dieser spannende Roman gepackt und nicht mehr
losgelassen, gerade weil das Szenario so real ist. Die Charaktere sind ausdifferenziert
und sehr glaubwürdig. Besonders gefallen hat mir die Figur Niu. Endlich mal
eine Frau als Programmiererin! Ihre Sensibilität ist anrührend, ihre Klugheit
erfrischend. Große Leseempfehlung!
Ein packender Roman
mit gesellschaftlicher Brisanz, Tiefe und interessanten Charakteren, ein sehr
gelungenes Debüt. Bitte mehr davon!
Das Ting, Artur Dziuk, bold im dtv-Verlag, München 2019, 464
Seiten, 18,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
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