Sonntag, 22. Dezember 2019

Dann schlaf auch du, Leïla Slimani

Dieser Roman springt mitten hinein in ein höllisches Szenario. Ein Baby und ein Kleinkind sterben an einem Tatort. Die Polizei ist da. Bereits auf der ersten Seite wird klar, wer für den Schrecken verantwortlich ist. Die Nanny der Familie hat die Kinder umgebracht. Anders als bei einem Krimi geht es nicht darum, die schreckliche Tat zu entschlüsseln. Wer hat es getan und wie. Es geht vielmehr darum zu verstehen wie es dazu kommen konnte, wieso es nicht vorhersehbar war.

In einem wohlhabenden Viertel von Paris treffen zwei Welten aufeinander. Da ist einmal die Familie Massé, die Juristin Myriam und der erfolgreiche Musikproduzent Paul mit ihren Kindern Mila und Adam. Myriam kümmert sich um die Kinder, möchte aber gern wieder arbeiten. Durch eine Anzeige kommen sie auf Louise, verwitwet, eine 20jährige Tochter außer Haus. Louise hat gute Referenzen und ganz offensichtlich ein Händchen für Kinder. Schon bald ist sie unentbehrlich in der Familie. Die Kinder lieben sie, Louise sorgt für geordnete Abläufe und schmeißt ganz nebenbei den Haushalt. Kein Chaos mehr, keine schreienden Kinder, auch wenn beide Eltern beruflich oft den ganzen Tag außer Haus sind. Scheinbar eine Idealsituation. Scheinbar.

Der Roman lässt uns insbesondere den beiden Frauen näherkommen. Myriam hat ein unerreichbares Familienideal der Vereinbarkeit von Kindern und Karriere. Sie leidet unter Schuldgefühlen, will sich aber kaum eingestehen, dass nicht alles so perfekt funktioniert, wie sie es auf dem Internetkanal ihrer Freundin sieht.

„Sie hatte die Vorstellung immer weit von sich gewiesen, dass die Kinder ihren persönlichen Erfolg und ihre Freiheit beeinträchtigen könnten. Wie ein Anker, der einen mit nach unten reißt, der das Gesicht der Ertrunkenen in den Schlamm zieht. Diese Erkenntnis hat sie anfangs total deprimiert. Sie fand es ungerecht und entsetzlich frustrierend. Ihr war klar geworden, dass sie das Gefühl, unvollkommen zu sein, die Dinge nicht richtig zu machen, einen Bereich ihres Lebens zu Gunsten eines anderen zu opfern, nie wieder loswerden würde. Sie hatte ein Riesendrama daraus gemacht und partout nicht von ihrer Idealvorstellung der Mutterrolle abweichen wollen. Hatte darauf beharrt zu glauben, dass alles möglich sei, dass sie alle ihre Ziele erreichen würde, dass sie weder verbittert noch erschöpft sein würde.“ (S. 40/41)

Louise lebt am Stadtrand in einfachsten Verhältnissen, wie die meisten Nannys, die sie trifft, wenn sie mit den Kindern in den Park geht. Von ihrer Geschichte wissen Myriam und Paul nichts, sie sind schließlich nur die Arbeitgeber. Louise liebt Adam und die kleine Mila, sie genießt es, sich in dem schönen Zuhause der Massés aufzuhalten und dort Teil der Familie zu sein. Aber die Vergangenheit holt sie ein, wird immer unerträglicher. Bis die Situation immer mehr kippt.

In dieser phantastisch geschriebenen Geschichte geht es nicht in erster Linie um die Handlung. Der Roman ist ein detailreich gezeichnetes emotionales Portrait zweier sehr unterschiedlicher Frauen. An ihnen wird eine gesellschaftliche Situation voller unerfüllbarer Erwartungen und idealisierter Elternschaft deutlich, von Gegensätzen, Vorurteilen und Ungerechtigkeit. Ich konnte mich in beide Figuren gut hineinversetzen. Da das grausige Ende zu Anfang vorweggenommen wird, fragte ich mich beim Lesen stets, wo genau das Kippen war. Was hätte ich selbst in der Situation getan? Hätte die Eskalation vermieden werden können? Ich vermag es nicht zu sagen.

Ein spannendes Portrait zweier Frauen an entgegengesetzten Polen der Gesellschaft. Es macht nachdenklich und schreit nach Veränderung, meisterhaft erzählt.

Dann schlaf auch du, Leïla Slimani, aus dem Französischen von Amelie Thoma, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2018, 224 Seiten, 10,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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