Mottis Mame weiß, was eine gute jüdische Mutter zu tun hat.
Sie muss Schidech machen. (Was das bedeutet, kann man im jiddischen Glossar am
Ende des Buches nachschlagen.) Motti liebt seine Mame. Also ist es für die Mame
eindeutig, dass er als Ehefrau eine Dame vom gleichen Schlage gutheißen würde.
Und so sorgt sie „ganz unauffällig“ dafür, dass Motti mit vielen ledigen Töchtern
ihrer Freunde und Bekannten zusammenkommt. Damit nichts schief geht, erledigt
sie das eine oder andere Telefonat, taucht an Treffpunkten auf, damit das Jingele
diese auch findet und erwartet umgehenden Bericht, ob die Hochzeitsplanung nun
beginnen könne.
Was amüsant klingt – und es für den Leser auch ist! – goutiert
Motti gar nicht sehr. Außerdem ist ihm bereits aufgefallen, dass der Tuches
einer bestimmten Dame in seinem Hörsaal an der Uniwersitejt viel hübscher ist
als der von jüdischen Mädchen, die er kennt. Das Dumme ist, dass der hübsche
Tuches einer Schickse gehört. Ein frommer Jid darf ihn weder ansehen noch
sonstige Gedanken über diesen haben.
Dieser überaus vergnügliche Roman, der schon durch die
Schreibweise der jiddischen Worte sehr erheitert, ist ein später Coming-of-Age-Roman.
Ganz klassisch geht es um die erste Liebe, die Abnabelung von den Eltern und darum,
den eigenen Weg im Leben zu finden. Verschärft wird dieser innere Prozess
jedoch durch das besonders enge Korsett des orthodoxen jüdischen Lebens, die
soziale Kontrolle durch die Gemeinde und den Rabbiner, die jede alltägliche
Kleinigkeit bestimmen, vom koscheren Essen über die traditionelle Kleidung bis
hin zur Frage, welche Brillengestelle man beim jüdischen Optiker kaufen kann.
Aus religiöser Sicht stellt sich die Frage nach einem vorbestimmten Schicksal.
„Und da erkannte ich das Geheimnis: Die Geschichten sind tatsächlich schon geschrieben, aber wir können sie verraten und uns mit dazu. Wir können so leben, wie wir glauben, leben zu müssen oder nicht anders leben zu können, doch es wird immer ein lebn geben, wie es für uns gemeint ist; es ist jenes, das uns am glücklichsten macht und das uns zu unserer wahren Größe erhebt; was auch immer der prajs dafür sein möge und wie viel auch immer wir dafür auf uns nehmen müssen.Ich beschloss, jenes lebn zu suchen und zu finden.“ (S. 170)
Thomas Meyer ist selbst Jude und in Zürich geboren. Die
größte Anzahl der Schweizer Juden lebt derzeit in Zürich. Es ist anzunehmen,
dass der Autor eigene Kenntnisse aus dieser Gemeinschaft eingebracht hat, die
trotz aller Ironie einen realistischen Eindruck machen. Meyer wirft die Frage
auf, was Jüdischsein im heutigen Europa heißt. Im Roman kontrastiert er die
orthodoxe Zürcher Welt mit der liberalen in Tel Aviv. Er zeigt auf, dass
Jüdischsein viele Schattierungen hat, für die sich der Einzelne entscheiden
kann. Auch spielt er mit den Vorurteilen der nichtjüdischen Welt, die zu
glauben scheint, alle Juden seien ähnlich, lebten und glaubten gleich. Dabei nimmt
er seine Hauptfigur herrlich auf die Schippe, ohne es jedoch an Tiefsinn fehlen
zu lassen.
Wer seine Kenntnisse der jiddischen Sprache erweitern
möchte, dem sei Thomas Meyers fünfteilige YouTube-Serie „Wolkenbruchs
Jiddisch-Kurs“ ans Herz gelegt. Diese ist besonders lustig, weil der Autor darin
die jiddischen Begriffe auf Schweizerdeutsch erklärt. (YouTube-Kanal von Thomas
Meyer) Ferner finden sich auf YouTube mehrere Sequenzen „Mit Thomas Meyer durch
Zürich“, in denen der Autor einige Schauplätze seiner Bücher in Zürich zeigt.
(YouTube-Kanal des Diogenes Verlags)
Ein herrlich
komischer Roman über das Erwachsenwerden, Jüdischsein und den eigenen Weg. Fünf
Sterne!
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme eine Schickse,
Thomas Meyer, Diogenes Verlag, Zürich 2014, 288 Seiten, 12,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags.)
Zusatz-Info:
Gerade ist die Fortsetzung dieses Romans im Diogenes Verlag erschienen
unter dem Titel „Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin“.
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